„Wir wählen immer noch“ – was Mensch-Sein wirklich bedeutet

von Alexander Poraj, Zen-Meister der Linie „Leere Wolke“, Mitglied der spirituellen Leitung am Benediktushof. Das Autorengespräch am Dienstag, 18. März bietet Raum und Option zum Austausch.

Vor drei Wochen hatten wir in Deutschland Wahlen. Hatten wir aber wirklich eine Wahl? Es sieht so aus, denn es standen 29 Parteien zur Auswahl. Jedoch habe mich dabei ertappt, dass ich aus dem Gedächtnis nur 12 Parteien benennen konnte und damit weniger als die Hälfte. Ich weiß auch, dass es nicht nur mir so ging.

Wählen bedeutet in diesem Zusammenhang auszuwählen und zwar aus dem recht breiten Angebot an Visionen, Lösungen, Weltanschauungen und natürlich ganz konkreten Personen, die all das Gesagte verkörpern. War es jedoch vor drei Wochen so – und wird es künftig so sein können –, dass nur eine, höchstens zwei oder in Ausnahmefällen drei der zahlreichen Gruppierungen das „absolut Richtige“ zu verkörpern weiß?

Mensch-Sein, Leben, Anerkennen

Führt uns der spirituelle Weg tatsächlich auf die Seite des „Wahren und Guten“?

Mit Sicherheit nicht. Gleichzeitig kann man schwerlich auch nur einer einzigen Gruppierung, wie toll oder unmöglich sie uns erscheinen mag, das eine oder andere kleine Körnchen so genannter „Fakten-Wahrheit“ absprechen. Nun erscheint aber für die einen das Körnchen Wahrheit der Gegner stets umhüllt von einer unannehmbaren Menge Unmöglichkeiten, während das eigene Körnchen der Stein der Weisen schlechthin ist. Und dieser von den anderen immer noch nicht bemerkt worden ist, und das trotz seiner Offensichtlichkeit.

Mit anderen Worten: Willkommen in der Welt der Vereinfachungen und daher in der Welt der Gegensätze! Und Hand aufs Herz: Können wir immer noch davon ausgehen, dass die kontemplative Haltung oder das Zazen – um nur zwei Beispiele zu nennen – unweigerlich dazu geführt haben und in der Zukunft dazu führen werden, die einzig „richtige“ Wahl getroffen zu haben oder zu treffen? Und sollten wir so denken, wäre das ein Zeichen vom Erwacht-Sein oder eher von fundamentalistischer Lebenseinstellung?

Was haben wir mit der Wahl gewählt und wählen es unter anderen Umständen täglich wieder? Glauben wir immer noch daran, in der Mehrheit der Fälle – seien diese politischer Natur oder kleine Alltäglichkeiten –, „das Richtige“ zu wählen? Oder können wir uns und damit auch unseren Mitmenschen zugestehen, dass unser Fokus seit Jahrhunderten immer noch das hervorhebt und zum Ziel unserer Handlungen erhebt, was uns persönlich und als selbstdefinierte Gruppe emotional stabilisiert, unsere Angst minimiert, uns einfach guttut (was immer das im konkreten Fall zu bedeutet vermag)? Oder einfach etwas Freude und Entspannung verspricht?

„Ich will nicht die Parlaments- und Parteienwirtschaft, welche die Verpestung des gesamten Lebens mit Politik bewirkt. Ich will nicht Politik. Ich will Sachlichkeit, Ordnung und Anstand.

(Thomas Mann)

Widersprüche und Gegensätze sind Teil des Lebens

Wir leben ein komplexes Miteinander, das wir weder wählen noch abwählen können. Die Verschiebungen und Rankings sind allesamt von kurzer Dauer und finden immer nur innerhalb des Miteinanders statt. Das Füreinander, das Nebeneinander, das Auseinander, bis hin zum Gegeneinander und Durcheinander sind nur Aspekte und Phasen des Miteinanders.

Ob das eine oder andere davon wirklich entbehrlich, ja überflüssig ist, so dass es – wie viele meinen – bekämpft oder in Folge „richtiger“ Argumentation oder gar spiritueller Erfahrung gänzlich überwunden werden könnte, ist sehr fraglich. Wäre es nämlich so, käme es nicht ständig und überall vor. Der normale Alltag führt uns täglich vor Augen, wie viele Gegensätze, ja Widersprüche und die mit ihnen verbundenen Verhaltensweisen in uns selbst, in unseren Beziehungen, Familien, Freundschaften, Organisationen, und – allen Versuchen und guten Vorsätzen zum Trotz – in spirituellen Gruppierungen ihr (Un)Wesen treiben.

Alles gehört zu unserem Menschsein – auch das vermeintlich Unannehmbare

Was tun? Wenn all das und vieles mehr, wie es scheint, zu unserem Menschensein dazugehört, dann sollten wir es zunächst auch so benennen und als Teil unseres Menschseins annehmen. Das eröffnet eine realistischere Möglichkeit etwas bewusster zu leben, anstatt so zu tun, als wären die unannehmbaren Eigenschaften die Hauptmerkmale unserer Gegner, während wir genau das Gleiche längst hinter uns gelassen oder gar gänzlich überwunden haben. Falls wir es überhaupt jemals hatten.

Wählen wir uns selbst, so wie wir sind, nämlich auch mit all‘ unseren sichtbaren und unsichtbaren Widersprüchen, Grenzen, Ängsten, Bedürfnissen und den daraus resultierenden Hoffnungen und Verführbarkeiten und stehen dazu auch dann, wenn es nach Nebeneinander, Auseinander oder gar Gegeneinander schmeckt und eben mal nicht nach Frieden, Freude und den dazugehörigen Süßspeisen.

Nebeneinander, Auseinander, Miteinander oder gar Gegeneinander

Wer von uns kann es vorab wirklich wissen, wohin das Leben will? Manch ein mutiges Gegeneinander führt nun mal zum Auseinander, welches, nach einer Zeit des Nebeneinanders, einen Neuanfang ermöglicht, der zu einem umfassenderen, weil bewussteren Zusammensein führen kann. Und – wie bereits gesagt – all das, ob es uns passt oder nicht, ist immer schon und immer nur ein gelebter Ausdruck unseres Miteinanders, von dem es niemals ein Entrinnen gab oder ein Entrinnen geben wird.

Es grüßt Euch
Alexander

Das Autorengespräch mit Alexander Poraj findet am Dienstag, 18. März um 19.30 Uhr statt – online & kostenfrei via Zoom.

Zum spirituellen Impulsbeitrag gibt es das „Autorengespräch“, ein Format, in dem sich interessierte Leser*innen und Kursteilnehmer*innen des Benediktushof zusammen finden, um gemeinsam mit dem Autor/der Autorin über den Impuls zu reflektieren.  Der gemeinsame Austausch kann eine sinnvolle und hilfreiche Ergänzung zur eigenen spirituellen Praxis sein. Der Ablauf ist dabei stets: Vortrag – Austausch in Kleingruppen – Fragen & Antworten im Plenum. Das ganze findet kostenfrei, online via Zoom statt. Anmeldung über den Button unten (gleicher Link wie beim Online-Sitzen in Stille).

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Alexander Poraj

katholischer Dipl.-Theologe, Schwerpunkt Religionswissenschaften, Promotion zum Thema: „Der Begriff der Ich-Struktur in der Mystik Meister Eckeharts und im Zen-Buddhismus“. Er ist Zen-Meister der Linie Leere Wolke West-Östliche Zen-Schule® und von Willigis Jäger ernannter Kontemplationslehrer. Er war u. a. Geschäftsführer der Oberbergkliniken, Mitbegründer der Stiftungen West-Östliche Weisheit in Spanien und Polen sowie der Institute für persönliche Entwicklung "Euphonia" in Barcelona und Breslau. Er ist Mitglied der spirituellen Leitung des Benediktushofes, Mitglied des Präsidiums der West-Östliche Weisheit Willigis Jäger Stiftung und Geschäftsführer der Dr. Poraj & Partner GmbH in Zürich. www.alexanderporaj.de, www.drporaj.ch