Rituale – ein Loblied in sieben Strophen
von Sven-Joachim Haack
Vorbemerkung:
Wir kommen aus einer Zeit sehr schlechter Beleumundung der Rituale. Sie galten vielfach als überkommen, verholzt, unverständlich, Ausdruck einer alten Ordnung, Individualität behindernd, unverständlich, kurz: verrottet. Und so stehen wir in einem fundamentalen Abbruch traditioneller, gesellschaftlich geteilter Rituale, der sich insbesondere an den konfessionell-kirchlichen zeigt.
Auf der anderen Seite gibt es eine vielfältige kreative Suche nach neuer, angemessener Ritualgestaltung. Ich selbst habe eine Entwicklung von einer kritischen Haltung hin zu einer sehr wertschätzenden Einstellung Ritualen gegenüber hinter mir. Und so möchte ich ein Loblied auf die Rituale am Benediktushof singen.
Rituale strukturieren, klären und ordnen
Manche Menschen behaupten, am Benediktushof sei es niemals still: Immer klingt, gongt oder tönt irgendetwas. Und in der Tat, fast alle Rituale des Hofes sind klanggesteuert: Morgen- und Abendglocke außen, die Sitzeinheiten werden mit drei Klängen der Schale eingeleitet, mit einem oder zweien beendet (zwei Klänge signalisieren, dass sich ein achtsames Gehen im Raum anschließt).
Die Essensglocke ruft zu den Mahlzeiten und gibt den Speisesaal frei, die Gongs leiten die Rezitationen, die Hölzer gestalten die Übergänge (vom Stehen ins Gehen, vom Gehen ins Stehen, vom Stehen ins Sitzen). Dem Ritualkundigen klären sie den Ablauf, ohne dass gesprochen werden müsste. Sie strukturieren die Praxis und die Abläufe, klären und ordnen sie. Und sicher ist diese Wirkung auch auf alltägliches Leben und auf seine Abläufe übertragbar.
Dabei ist ganz wichtig: All diese Rituale haben nichts, aber auch gar nichts von heilig. Ich habe an unterschiedlichen Orten praktiziert, überall ist die Ritualgestaltung anders, aus guten Gründen. Man kann es so machen oder so, wichtig sind die Klarheit und die Übereinkunft, das gemeinsame Teilen.
Rituale schaffen Sicherheit und entlasten
Noch nicht beim Besuch einer Einführungsveranstaltung oder am ersten Tag eines Kurses, aber doch sehr bald schaffen die Rituale Sicherheit im Ablauf und entlasten damit von der dauernden Aufgabe des Entscheidens, welche uns im Alltag bei aller individuellen Freiheit so viel Kraft kostet. Am Hof ist mein Schlafplatz, mein Sitzplatz und mein Essplatz sicher und die Klänge geben den Takt vor, was kommt. Entscheiden ist nicht nötig, wenn ich mich dem Fluss der Tagestruktur und den Ritualen zu überlassen vermag und etwaige Widerstände aufgeben kann. Wiederum nicht anders als im alltäglichen Leben. Wird es nicht unendlich leichter, wenn ich mich dem Fluss des Lebens zu überlassen und hinzugeben vermag, anstatt dagegen anzukämpfen?
Rituale laden zur Vertiefung ein
Gerade diese Entlastung von der andauernden Forderung nach Entscheidungen im Alltag lädt zur Vertiefung der Stille und Beruhigung des Geistes in der Praxis des Hofes ein. „Gehe tiefer in die Praxis und in die Übung“ setzt geradezu einen gesicherten Raum voraus, der dies zu ermöglichen und zu bergen vermag. Wenn das Gekräusel der Oberfläche sich beruhigt, wird der Weg in die Tiefe möglich, in umfassendere Stille und Gewahrsein, ohne immer wieder Feuer unter dem Kochtopf der Gedanken zu machen.
Rituale schaffen Verbundenheit und Gemeinschaft
Rituale haben keine magische Kraft, jedoch gewinnen sie Kraft durch das gemeinsame Teilen und Praktizieren. Sie generieren ein Empfinden von Zugehörigkeit und Gemeinschaft – aber Vorsicht – auf der Rückseite auch Fremdheit. Deshalb bleiben Einführung und Vermittlung der Ritualkunde von so großer Bedeutung für die Beheimatung am Hof und in die Praxis der Linien. Es bedarf der je eigenen Aneignung.
Und so war es für mich ein weiter Weg vom ersten Abendessen in St. Benedikt, wo das Essensritual mit den Hölzern Flucht-Tendenzen in mir auslöste (zu militärisch, zu streng, wo bist du denn da gelandet, nichts wie weg!) bis zu meiner heutigen Wertschätzung und dem anhaltenden Bedauern darüber, dass im Speisesaal die Hölzer durch das Inkin ersetzt worden sind. Heute, vertraut mit den Ritualen, freue ich mich vor jedem Kurs darauf und es ist wie ein Heimkommen.
Rituale himmeln die Erde und erden den Himmel
Diese verbindende Kraft eignet den Ritualen aber nicht nur auf der personalen raumzeitlichen Ebene, sondern gerade auch darüber hinaus. Rituale verbinden den Himmel und die Erde, das raumzeitlich Bedingte mit dem Unbedingten, die Wirklichkeit vor Himmel und Erde mit Raum und Zeit, die konventionelle mit der unkonventionellen Wirklichkeit. Sie lassen uns tiefer erfahren, umfassender einsehen und sie führen den Zusammenfall der Gegensätze vor Augen. Damit himmeln sie die Erde und machen das Augenfällige durchsichtig für das Wesentliche. Oder, um es mit Novalis zu sagen: „Alles Sichtbare ist ein in einen Geheimniszustand erhobenes Unsichtbares“, Durchlässigkeit für die immanente Transzendenz, wie Karlfried Graf Dürckheim dies formulierte. Gehimmelte Erde und gleichzeitig geerdeter Himmel.
Rituale lehren uns unser wahres Wesen
Damit führen die Rituale uns ein in unser wahres Selbst und in unser wahres Wesen. Sie sagen uns, wer wir zutiefst schon immer sind, vor allen, auch spirituellen Selbstoptimierungs-Programmen. Darin unterscheiden sich die alten kirchenjahreszeitlichen Rituale nicht von den unsrigen und heutigen. Sie wollen uns unser wahres Wesen lehren, Einsicht in und Realisieren von Buddha-Natur und Gotteskindschaft.
Beschluss: Dank und einladende Bitte
Mein herzlicher Dank gilt allen, die die Rituale des Hofes vollziehen und damit pflegen und kultivieren. Diese sind eine unglaubliche Stütze und Unterstützung für die Praxis. Und sie sind ein hohes Gut. Sie müssen geteilt, praktiziert und verstanden werden, um Kraft zu behalten und den Nachfolgenden zur Verfügung zu stehen. Sie sind, ebenso wie die Stille des Hofes, zarte Pflanzen. Ob dies gelingt, liegt an jedem und jeder einzelnen von uns, die wir zum Hof kommen, um zu praktizieren. Wir geben mit unserer Stille und unserem Hineinstellen in den rituellen Vollzug etwas zurück und tragen zur Kräftigung des Praxisortes bei. Auch dafür möchte ich mit diesem Impuls einen Beitrag leisten.
Deshalb die herzliche Einladung, die Rituale des Hofes zu achten, auch wenn sie sich noch nicht vollständig erschlossen haben. Ihre Kraft hängt von uns allen ab.
Über den Autor: Sven-Joachim Haack
Ev. Pfarrer im Ruhestand, Klinikseelsorger, Kontemplationslehrer „Wolke des Nichtwissens“ (Willigis Jäger) und Würzburger Forum der Kontemplation (WFdK). Initiator und Leiter der „Weggemeinschaft Kontemplation und Mystik – Spiritualität und Lebenskultur aus der Stille“, Weiterbildungen in Gestalt- und transpersonaler Psychotherapie, sakralem Tanz, Ritual, Gebärde und Klangmassage. www.kontemplationundmystik.de