Im Raum des Nicht-Wissens hat alles seinen Platz – auch das Sterben

Das Leben vom Ende her denken – was kann das Zen zum Ende unseres Lebens sagen und wie können wir mit unseren Ängsten umgehen? Friederike Boissevain, Palliativmedizinerin und Zen-Lehrerin, lädt in einem Zen-Seminar von 15. bis 20. September zur Annäherung an die (eigene) Sterblichkeit ein.

 

Warum kann es sinnvoll und auch bereichernd sein, das Leben – auch das eigene – vom Ende her zu denken? Und wie unterstützt uns die spirituelle Praxis dabei, Sterbende zu begleiten? „Vom Ende her denken“ titelt Friederike Boissevain ihr Zen-Seminar um die hospizliche Sorge, das von Sonntag, 15. bis Freitag, 20. September erstmals am Benediktushof stattfindet und das sich insbesondere an professionelle und ehrenamtliche Begleiter von Sterbenden richtet, ebenso wie an jeden (spirituell) Interessierten. Im Vorfeld finden zwei Online-Infotermine statt (3. Juni und 1. Juli, jeweils ab 19 Uhr).

Friederike Boissevain

Friederike Boissevain arbeitet hauptamtlich als Fachärztin für Innere Medizin, Tumorerkrankungen und Palliativmedizin. Zudem ist sie als Vorsitzende eines ambulanten Hospizdienstes und als Koordinatorin und ehrenamtliche Geschäftsführerin eines stationären Hospizes für Kinder und Erwachsene tätig. Sie ist autorisierte Zen-Lehrerin in der Soto-Zen Tradition (Shunryu Suzuki).

In einem sehr berührenden Gespräch erläutert Friederike Boissevain eindrucksvoll und einfühlsam die Bedeutung eines „Ortes des Nicht-Wissens“, wie wir ihn erfahren und (er-)tragen lernen können und wie er uns zu echter Begegnung verhilft – auch mit uns selbst und unserer eigenen Sterblichkeit.

„Jede Begegnung ist eine Heilung. Hier haben Abneigung und Ekel genauso ihren Platz wie Begeisterung und Zuwendung.“

Das Seminar verknüpft erstmals Zen und die Begleitung Sterbender. Welche Inhalte, Erfahrungen, Unterstützung möchtest du den Kursteilnehmenden vermitteln – aus der Praxis des Zen, für die Praxis in der Hospizarbeit?

Friederike Boissevain: Der Kurs soll als Anregung dienen, einen Ort des „Nicht-Wissens“ kennenzulernen, mich mit ihm vertraut zu machen, ihn zunehmend auszufüllen und zu bewohnen. Es ist für beide Seiten weise und hilfreich, diesen Raum für einen selbst gegenwärtig zu machen, ihn zu erfahren, bevor ich in eine hospizliche Begegnung eintrete. In der Hospizarbeit wird oft über „Haltung“ gesprochen und das ist auch wichtig. Der Ort des „Nicht-Wissens“ greift jedoch weiter. Dieser ist zudem nur erfahrbar und hat an sich keine Agenda. Zen-Übende wissen das. An diesem Ort hat alles einen Platz: sowohl für mich selbst, als auch die Erzählungen, die ich von anderen mitnehme.

Aus der Zen-Praxis wissen wir, dass es nichts zu erreichen gibt – wir können also auch diesen „Ort des Nicht-Wissens“ nicht willentlich betreten, sondern nur erfahren…

Friederike Boissevain: Ich sehe als Grundlage für die Entstehung des gemeinsamen Raumes, ihn zunächst zärtlich erwachsen zu lassen. Er beginnt bei mir und dehnt sich auf natürliche Weise aus als Einladung für mein verletztes Gegenüber, der/die sich gebeten fühlt, darin einzutreten und einfach sein zu dürfen. Keine Pille, keine Aufforderung „nun doch endlich loszulassen“ oder „bitte die letzten Dinge zu regeln“. Auf diese Weise entsteht Begegnung. Wahre Begegnung. Und jede Begegnung ist eine Heilung. Hier haben Abneigung und Ekel genauso ihren Platz wie Begeisterung und Zuwendung. Damit ist nicht gemeint: Passivität oder eine Art von spirituell verbrämter Trance oder Gleichmütigkeit. Dies ist ein sehr lebendiger Ort, an dem Spontanität, buntes Leben und auch Lachen, Humor, wie auch Tränen ihren Platz haben. Der Kurs wird zudem auch Elemente aus der klassischen Hospizbegleiter-Ausbildung beinhalten: Selbstreflexion wie auch Gruppenarbeit und etwas Fachwissen

Welche spirituellen Vorerfahrung sollten die Teilnehmenden mitbringen?

Friederike Boissevain: Es ist hilfreich, wenn man sich einer meditativen Praxis gewidmet hat. Zumindest aber die Bereitschaft sollte vorhanden sein, sich der stillen Reflexion auszusetzen. Das stille Sitzen wird neben den interaktiven Abschnitten den wesentlichen Teil des Kurses ausmachen.

Als Pallativmedizinerin und Zen-Lehrerin bist du in beiden Bereichen praktisch beheimatet. Magst du uns  – aus der eigenen Erfahrung – skizzieren, inwiefern Spiritualität/Zen und Hospizbegleitung sich unterstützen und tragen?

Raum Des Nichtwissens 1

Friederike Boissevain: Die spirituelle Praxis ist meine Basis. Die Hospizarbeit stellt eine ihrer Ausdrucksformen dar. In der Hospizarbeit (und im Zen) geht es um direkte Erfahrungen, roh und unmittelbar. Ich begegne mir dabei in einer Art und Weise, die gewohnte Verhaltensmuster nicht mehr als tragfähig wirken lassen: Der/die andere ist (durch seine/ihre Situation) verletzlich. Ich muss mich auch dahin begeben, sozusagen an genau diesen Ort (obschon noch nicht krank). Mein Gegenüber verliert kontinuierlich seine Identitäten, ich muss ebenfalls „wissen“ nicht nur im Kopf, sondern auch unterhalb meines Kinns was das für mich bedeutet.

In den verschiedenen Sterbephasen begegnen uns – auch als Begleiter – Hilflosigkeit, Angst, Verzweiflung, Wut und letztlich auch der Tod. Wie kann ich als Begleiter mit spiritueller Erfahrung den Sterbenden hier begegnen?

Friederike Boissevain: Starke Emotionen sind bereits während der Erkrankungsphase sehr gegenwärtig. Als ehrenamtlich Tätige bin ich nicht geschult für professionelle psychologische Begleitung, muss aber diesen starken Emotionen in mir selbst und in meinem Gegenüber ausreichend Raum geben können: ich darf nicht weglaufen. Die Kranken spüren sofort, ob ich eine Absonderungsbewegung mache. Dann werden sie sich zurückziehen und wir werden uns verfehlen. Das ist eine Form des Verrats. An mir und dem anderen.

„Es sind weniger die Worte, die wir üben, als unsere bestmögliche Präsenz.“

Letztendlich kommt es darauf an, dass ich lerne, dabei zu bleiben. Bei mir selbst und bei meinem Gegenüber. Nur so kann ich benennen, erkennen und gemeinsam aushalten. Wie auf dem Kissen. Somit ist auf dieser Ebene zwischen Meditation und einer Hospizbegleitung kein Unterschied: ich versuche, mein Bestes zu geben, um der Wahrheit Ausdruck zu verleihen. Nichts ist schön am Sterben und Abschied nehmen. Es gibt hierfür keinen anhaltenden Trost. Dieser kann vielmehr wachsen durch mein Aushalten, mein Dabeibleiben. Es sind weniger die Worte, die wir üben, als unsere bestmögliche Präsenz.

Begegnung

Im Zen heißt es jeden Abend: „Immer geht es um Leben und Tod“. Hilft uns die spirituelle Praxis besonders dann, wenn mein Gegenüber, der Sterbende, die Angehörigen diese Präsenz (noch) nicht aushalten können?

Friederike Boissevain: Wir freunden uns auf dem Kissen an mit Veränderbarkeit, mit Veränderung. Das ist eine natürliche Entwicklung in unserer Praxis. Dazu gehört auch, dass sich jedes Leben durch sein Sterben definiert. Dieses ist ein Prinzip. So funktioniert die Wirklichkeit. Über die Jahre und Jahrzehnte an Praxis sinkt dies langsam ein. Ich kann zu einer Akzeptanz kommen und dennoch tieftraurig sein, Abschiedsschmerz verspüren und mich um medizinische Verlängerung oder Linderung bemühen. Es ist also mehr als Präsenz: Es ist der Fluss des Dharma. Je tiefer wir uns dort hineinbegeben, desto mehr werden wir selbst Boten und Vermittler der Furchtlosigkeit. Dieses große Geschenk, von dem der Buddha sagte, dass wir als Übende es unbedingt weitergeben können und sollten.

Wie kann ich in der Hospizbegleitung, aber auch in meinem Umfeld, das Feld für Trauer, Verluste und die Angst vor dem Tod öffnen?

Friederike Boissevain: Das geschieht, wenn ich als jemand, die in der Hospizarbeit tätig ist, meinem Umgang mit diesem Themenbereich ein Stück Normalität verleihe, inklusive der persönlichen Bereicherung, die es bedeutet, in diesem Feld etwas Zeit zu verbringen. So wie eine unserer Ehrenamtlichen, die mir neulich in der Hospizküche strahlend erzählte: Wieviel Spaß es ihr doch macht, nach der Arbeit ins Haus zu kommen und für unsere kleinen und großen Gäste das Abendbrot zu bereiten.


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