Nur Geschichten?
von Cornelius von Collande, Zen-Lehrer der Linie “Leere Wolke” Willigis Jäger, Zen-Meister der “White Plum Asanga” Bernie Glassman
Menschen sind große Geschichten-Erzähler. Von klein auf lernen wir die Welt in „Dinge“ zu zerlegen, diese zu benennen und ihnen eine menschliche, kulturelle und persönliche Bedeutung zu geben – ihnen also eine Geschichte hinzuzufügen. Diese Geschichten sind machtvoll, solange nur alle daran glauben. Zum Beispiel Geld: Wir bedrucken ein Stück Papier mit einer Zahl und erzählen uns die Geschichte, dass es damit einen bestimmten Wert erhält. Glauben alle daran, so haben wir ein geniales Mittel zum Warentausch. Glauben wir nicht daran, so haben wir eine Wirtschaftskrise.
Ein weiteres Beispiel: Nationen. Auch sie sind reine Fiktion. Wir schlagen Pfähle in den Boden und erzählen uns die Geschichte, sie begrenzten ein Land. Alle haben ihre historischen, kulturellen und persönlichen Geschichten darüber. Ähneln sich diese, so können sie unser Zusammenleben stabilisieren, widersprechen sie sich, so entstehen im schlimmsten Falle Kriege.
Auch Zen hat seine Mythen:
So ist zum Beispiel der „Denko Roku“ ein großer Zen-Geschichten-Band:
Es wird darin die Zen-Übertragung, beginnend vom Buddha bis zum 52. Patriarch Eihei Jo berichtet. Und GLEICHZEITIG findet man darin Koans, die Geschichten als Geschichten entlarven:
Der 31. Patriarch, Daii Zenji, verneigte sich vor Kanchi und sagte:
„Ich bitte Dich, Abt, hab Mitleid mit mir und erteile mir die Befreiung!“
Der Patriarch sagte: „Wer bindet Dich?“
Daii antwortete: „Es gibt Keinen, der mich bindet.“
Der Patriarch sagte: „Warum suchst Du dann immer noch nach Befreiung?“
Und wie so oft endet das Koan mit dem Satz: „Bei diesen Worten erfuhr der Schüler große Erleuchtung“, was nichts anderes bedeutet, als dass der Schüler erfuhr, dass er sich selbst mit der Geschichte seiner Unfreiheit bindet. Also sozusagen „ein Ding“ aus seiner Unfreiheit machte.
„Ich böte euch gerne meine Hilfe an, aber leider haben wir im Zen nicht ein einziges Ding.“
(Ikkyu, Zenmeister „Verrückte Wolke“)
Zen kann uns also von Geschichten befreien und kann, wenn wir nicht aufpassen, selber eine Geschichte werden: „Mein Haus, Meine Stellung, Meine Frau, Mein Zen“. Zen ist Freiheit und kann immer auch zu einem spirituellen Konzept, einer Geschichte werden. Und so heißt es im Kommentar zu dem Koan auch: „Hier wissen wir nicht, was gebunden und was befreit ist.“ Beides ist von Bedeutung, wie wir bei Daii im Koan sehen: Wir leiden ja tatsächlich an den Geschichten, die wir uns über uns und andere erzählen. Ich würde meinen Klienten in der Psychotherapie nicht gerecht werden, wenn ich ihnen ausschließlich sagte: „Das sind doch nur Geschichten!“ Auf der anderen Seite ist es gerade das, was wir im Zen immer wieder erfahren, und indem wir ohne Erwartungen einfach nur sitzen, gibt es nicht einmal mehr Freiheit oder irgendein anderes Ding.
Da ist das Sosein so hautnah, dass kein Konzept, keine Geschichte mehr zwischen uns und dem Sosein steht. Diese Erfahrung zu machen, sei es auch nur für einen kurzen Moment, und keine weitere Geschichte daraus zu machen, ist nur der erste Schritt. Das Erfahrene dann aber im Alltag zu leben, also die Geschichten ernst zu nehmen, wissend, dass es im Grunde nur Geschichten sind, darin besteht die eigentliche Lektion.
Ikkyu, Zenmeister „Verrückte Wolke“, brachte es auf den Punkt, indem er sagte:
„Ich böte euch gerne meine Hilfe an, aber leider haben wir im Zen nicht ein einziges Ding.“