Es ist noch nicht erschienen
von Sven-Joachim Haack, Kontemplationslehrer „Wolke des Nichtwissens“ (Willigis Jäger)
„Es ist noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen, wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist.„
(Bibel, 1. Johannes 3,2)
Es ist noch nicht erschienen, es ist noch nicht offenbar geworden, was es heißt ganz Mensch zu sein.
Es ist noch nicht erschienen, was es heißt ganz menschlich zu sein, weder als Einzelne, noch als eine Menschheit.
Es ist noch nicht erschienen, was es heißt, mitfühlend, lebens- und schöpfungsfreundlich, liebesfähig aus der Erfahrung der Einheit zu leben.
Wir sind noch nicht realisiert und verkörpert
Beim Blick in Zeitungen und Nachrichten besteht kein Zweifel: es ist sicher nicht das Beste, was wir als Einzelne und als eine Menschheit dem Leben zu geben vermögen, was wir gegenwärtig geben und beitragen. Es ist noch nicht erschienen, was es heißt ganz Mensch und ganz menschlich zu sein. Wir leben deutlich unter unseren Potentialen.
Natürlich sehen wir an den großen Verkörperten aller Zeiten ein Bild, eine Ahnung, eine Tendenz, die uns die Richtung anzeigt. Wenn jemand bedingungsloses Wohlwollen und den tiefen Glauben an die Verbundenheit zwischen allen Lebewesen im täglichen Tun für andere erlebbar macht, dann ermöglicht dies anderen, dass sie spüren, was es bedeuten kann, aktiv und gleichzeitig ganz mitfühlend, ganz friedlich, ganz menschlich zu sein.
Wenn es aber offenbar wird
Dieses Offenbarwerden hängt nicht an unserer Absicht, Leistung, Anstrengung oder unserem Funktionieren. Es ist eher das Geschenk des Durchbruchs auf eine Bewusstseinsebene der Verbundenheit.
Wenn es aber offenbar wird, wir durchbrechen und hineinreifen in unser wahres tiefstes Wesen erfahren wir, dass es nichts zu erreichen gibt, da wir realisieren was wir schon immer zutiefst sind. Dann erkennen wir, dass unser wahres Wesen, weder Geborenwerden noch Sterben kennt und Anteil hat an dem Einen, welches unser aller wahre Natur ist.
Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden, wenn es aber offenbar wird, werden wir ihm gleich sein. Denn wir sehen ihn wie er ist. Jenseits unserer Konzepte und Vorstellungen, Konditionierungen und Muster, so wie die Wirklichkeit zutiefst ist. Um es mit Meister Eckart zu sagen: Der Vater gebiert seinen Sohn ohn` Unterlass. Und ich sage weiter: Er gebiert mich als seinen Sohn… Nein: Er gebiert mich nicht als seinen Sohn, vielmehr: Er gebiert mich als sich und sich als mich und mich als sein Wesen und als seine Natur.
Weihnachten: Fest der geweihten Nacht.
An Weihnachten, so sagt man, feiern wir die Geburt SEINES Sohnes. Wie immer im kirchenjahreszeitlichen Festkreis feiern wir aber nicht ein historisches Ereignis, das wäre zu wenig, viel zu wenig. Wie immer geht es um uns selbst. Wir feiern uns in unsere volle Menschwerdung hinein. An uns soll sich vollziehen, was wir da feiern. Heilsgeschichte hier und heute, nicht museale Erinnerung.
Zu Weihnachten feiern wir die Geburt unseres wahren Selbst, eben das, was wir zutiefst schon immer sind, vor aller Leistung, vor allem Gelingen, jenseits allen Verdienstes. Wir feiern uns in der vollen Akzeptanz unseres Seins, jenseits aller Schwächen, als liebenswerte und liebende Wesen. Wir sind, wer wir immer schon waren und sein werden. Da, wo sich unser Wesen als unsere Essenz zeigt, in der göttlichen, nicht-trennenden Ebene, können wir einander begegnen. In der Verbundenheit mit allem, dort feiern wir das Menschsein. Jenseits allem Trennenden, das uns im Alltag mürbe macht, das uns zum Streit am Weihnachtstisch hinreißen lässt, uns in moralische Diskussionen verstrickt.
Deshalb: Weihnachten – Fest der geweihten Nacht und Menschwerdung
Was bedeutet das nun, für die anstehende Zeit? Wie können wir ganz menschlich werden? Nun, es gibt nichts zu tun und schon gar nichts zu erreichen: Vollende deine Geburt. Es ist alles schon da.
Und dies ist kein einmaliger Akt, weder am Anfang noch während unseres Lebens. Es ist ein fortdauernder Prozess des stirb und werde, wie ihn der Liebhaber des Lebens aus Nazareth uns fortwährend vor Augen führt.