Morgen, morgen, nur nicht heute?
von Alexander Poraj, Zen-Meister und Mitglied des Leitungsteams am Benediktushof
Wie üblich die gute Nachricht zuerst: Unter manchen spirituellen Gruppen herrscht Konsens darüber, dass nur Gegenwart ist. Alles ist genauso wie es ist, jetzt und nur jetzt. Es ist genauso, wie es ist immer frisch, unmittelbar und einmalig. Das „Jetzt“, das „Sosein“, genau dieser Moment, dieser Augenblick, dieser Atemzug oder Schritt, dieser Schrei, diese Träne, dieser Schuss, dieser erhobene Finger (muss nicht der Zeigefinger sein) oder dieser Schluckauf: alles Gegenwart.
„Heute ist die gute alte Zeit von morgen.“
(Karl Valentin)
Jetzt die schlechte Nachricht: Mit den meisten spirituellen Praktiken wird die Gegenwart abgelehnt. Warum? Weil Spiritualität sich eben nicht als Gegenwart erleben will, sondern zunächst und unbemerkt als eine wesentlich bessere Alternative zum trüben „Jetzt“.
Erst als solche Alternative wird sie als kollektiv akzeptierte Vorstellung zum Ziel der spirituellen Praxis oder Übung erhoben. Nur weil sie besser ist als die Gegenwart, mithin diese verdrängt, ist sie es wert, spirituell genannt zu werden und als ein über alle unvollkommenen gegenwärtigen Zustände erhabenes Ziel aufzutreten.
Es beginnt eher unscheinbar, mit dem Wunsch nach mehr Stille, einem bei-sich-bleiben oder dem Wunsch nach Konzentration auf das Wesentliche. Ab da kennt die spirituelle Wunschliste so gut wie keine Grenzen, zahlreiche Jenseitsvorstellungen und dauerhafte Suprazustände miteingeschlossen. All das wäre nicht weiter störend, gäbe es da nicht das Problem der Umstände, die so dominant und hartnäckig all den spirituellen Vorstellungen im Wege stehen und zwar gegenwärtig im Weg stehen.
Mehr noch: Zu allen Zeiten schien es nicht anders gewesen sein, so dass sich die spirituellen Übungen in den allermeisten Fällen für eine Fortsetzung des üblichen Kampfes des „für“ und „gegen“ entschieden haben, ohne es zu merken. Diese Haltung passiert deswegen die meisten spirituellen Kontrollinstanzen, weil das „Dagegensein“ in der Regel nicht direkt formuliert wird. Es ist aber in jeder „Dafür“-Haltung und -Handlung inbegriffen und verfolgt jeden wie sein eigener Schatten, der niemals aus sich selbst, aber immer nur aus dem gut gemeinten Licht entsteht. Und welcher spirituelle Weg will nicht im strahlenden Licht der Ichlosigkeit, der Liebe und der Erleuchtung enden?
Und weil dieser Schritt so selbstverständlich akzeptiert wie auch umgesetzt wird, merkt man zuweilen ein Leben lang gar nicht, wie aus der Unmittelbarkeit und der Möglichkeit Gegenwart zu vollziehen erneut eine auf eine „bessere“ Zukunft ausgerichtete individuelle und/oder kollektive Übung wird. Der Lichtbildausweis mit der Aufschrift „Spiritualität“ lässt sie in der Regel alle Kontrollschranken ungehindert passieren.
Natürlich ist es leicht nachvollziehbar, weswegen das „Jetzt“ abgelehnt werden soll, ja muss, denn es ist schrecklich, unzumutbar und so schrecklich gewöhnlich. Es kann unter keinen Umständen als „spirituell“ bezeichnet werden.
Warum eigentlich nicht? Etwa deswegen nicht, weil es nicht gegenwärtig ist? Nein, das ist leider nicht der Grund. Das aber wäre, zumindest was Zen angeht, das einzige Argument. Nun aber ist es so, dass wir die Gegenwart ablehnen, weil sie einer vorgestellten und somit einer alternativen Zukunft nicht entspricht. Es ist aber nur unsere vorgestellte Zukunft, welche sich in den Kreationen von „anders“ und „besser“ seit Menschengedenken austobt.
Nun, auch das wäre noch zu verkraften, weil alle diese „Kreationen“ ebenfalls Gegenwart sind. Was denn sonst. Schade ist nur, wie viel Zeit wir dafür verwenden, uns gegen die Gegenwart zu sperren in der beständigen Hoffnung auf eine vorgestellte, bessere individuelle oder gemeinschaftliche Situation.
Ganz gleichgültig aber, wie stark wir die Gegenwart ablehnen und uns an eine vorgestellte bessere Zukunft anlehnen – sie ist, jetzt, immer in voller Blüte und Pracht, auch dann, wenn uns der Duft ihrer gegenwärtigen Komposition mal wieder die Nase rümpfen lässt. Sie ist genauso, wie sie jetzt ist, und das auch dann, wenn wir aus dem Versteck unseres Rosengartens alles andere nur noch als Unkraut definieren, gegen welches – Gott, sei Dank! – ein spirituelles Kraut gewachsen ist. Das müssen wir nur noch geduldig säen, um endlich das ernten zu können, was wir uns als gut und richtig vorstellen. Bis dahin gilt es natürlich: jäten soviel das Zeug hält, koste es was es wolle.
Was tun also? Nichts.
Nichts tun ist hier kein Gegensatz zum Aktiv-Sein, sondern ein Dasein in dem und mit dem, was ist. Es fordert Präsenz. Diese wiederum ist so etwas wie die persönlich gefärbte Resonanz auf die erlebte und damit zugelassene Gegenwart. Vielleicht müssen wir die Gegenwart nicht wie ein trotziges Kind hinter uns in einen noch besseren Kindergarten zerren, sondern uns direkt und unmittelbar mit ihr beschäftigen? Ihr manchmal die verrotzte Nase putzen, manchmal im Dreck wühlen lassen, manchmal in Arm nehmen und mitheulen, häufiger mitspielen. – Denn einiges spricht dafür, dass wir nur so am Leben teilnehmen, indem wir es leben.
Euer Alexander