Langzeitaufenthalt in vier Bildern
Spirituelle Auszeit: Anne-Sophie Balzer beschreibt in ihrem Essay ihre Erfahrungen als Langzeitgast. Wie fühlt es sich an, mehrere Wochen als Hausgast am Benediktushof zu leben, zu arbeiten und täglich gemeinsam zu meditieren?
Bild 1: Den Knoten entwirren
Der Zug steht. Eigentlich sind wir fast schon in Würzburg, aber nun stehen wir. Ich schaue aus dem Fenster auf vertrocknete Samenkapseln und schüttere Halme am Bahndamm. Es ist Ende November. Was da draußen vor dem Zugfenster lebt, hat sich zurückgezogen, ist unter die Erde gekrochen, stellt sich still, hält aus. Hinter mir schnalzt jemand mit der Zunge, schreit beinahe in sein Telefon. Wenn wir noch eine Minute länger stehen, lauf ich Amok. Das geht ja gut los. So eine Durchsage, wie sie standardmäßig am Bahnsteig abgespielt wird, wäre nun gut: Achtung Sicherheitshinweis: Lassen Sie Ihre Gedanken nicht unbeaufsichtigt.
Vor mir liegen zwei Wochen als Langzeitgast am Benediktushof. Auch wenn Zeit nicht wirklich geographisch vor einem liegt wie ein sich ausrollender Teppich, den man betritt, sagen wir es so. Während der Zug steht, denke ich bang daran, dass ich ganze zwei Wochen lang nicht an meiner Doktorarbeit werde schreiben können. Habe ich nicht Dringlicheres zu tun, als stundenlang an eine Wand zu schauen? Kann ich mir Auszeit leisten, was auch immer das bedeutet?
Aber ich freue mich auch. Auf die Stille. Auf das Sesshin von Doris Zölls, zu deren Teishos ich gehen möchte, und auf das Rohatsu, das im Anschluss stattfindet. Ich bin neugierig, wer sonst noch mit mir als Langzeitgast am Hof sein wird. Offenheit habe ich mir vorgenommen. Mit einer offenen Haltung an die Dinge herangehen oder die Dinge an mich herankommen lassen. Ein bisschen so, als würde man in jedweder Situation denken: Aha, so ist das.
Tag 1. Es ist früh am Morgen, ich bin eingeteilt für den Dienst an der Klangschale. Das bedeutet: früher da sein, Raum lüften, Kerze anzünden, draußen für die Kinhin-Gehenden die Hölzer schlagen. Ich schaue auf die digitalen Sekundenanzeige meiner Uhr, 57, 58, 59. Die Zeit bekommt bei dieser Aufgabe eine hyperreale Bedeutung, für die anderen Meditierenden wird man zum wandelnden Wecker, zu Chronos mit dem Stundenglas.
Ich mag das, denke ich. Die Aufgabe gefällt mir. Aber sobald einem eine Sache gefällt, ist das Gegenteil schon mitgedacht, die nächste Arbeit wird einem vielleicht nicht gefallen. So schnell ist man in die Differenzierungsgrube gefallen. Kann ich diese Tätigkeit einfach ausführen, oder noch besser: kann ich sie einfach sein – ohne „Gefällt mir oder gefällt mir nicht“?
Nach dem Frühstück gehe ich hinüber zum Hauswirtschaftstrakt. Dort stehe ich mit einem anderen Langzeitgast bei Neonlicht an einem Tisch und falte verschiedenfarbige Putzlappen, blaue, rosafarbene, grüne, um sie dann ins Regal zu legen, auf dass sie wieder benutzt werden können. Als nächstes sind Geschirrtücher dran, anschließend kämpfe ich mit schwarzen Küchenschürzen. Die Bändel der zwanzig Schürzen haben sich zu einem gordischen Knoten verflochten. Ich unternehme verschiedene Enthedderungsversuche. Beginne sanft und geduldig, werde unwirsch, rupfe herum, seufze. Wir müssen uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen, befand Albert Camus. Tatsächlich stört mich dieser massive Knoten nicht.
Und auch sonst nichts. Da ist so eine Leichtigkeit in mir an diesen ersten Tagen am Hof. Ich schlafe tief und traumlos, esse mit Appetit (der Speichelfluss beginnt pünktlich zum Essensgong), gehe mit federnden Schritten über den Hof und lächle den Menschen zu, die mir begegnen. Zazen fällt mir leicht, ich verbringe friedvolle Stunden auf meinem Kissen. Mit den anderen Hausgästen entsteht ein schönes Gefühl von Gemeinschaft, wir geben aufeinander acht, bei aller Stille. Ora et labora. Da muss man nicht lange überlegen, was man mit seiner Zeit anfängt.
Bild 2: Dieses unerhörte Glucksen
Vieles kommt mir lustig vor. Wenn jemand aus Versehen die Klangschale falsch schlägt, steigt in mir ein schwer zu bändigendes Lachen auf. Ein fehlender Schlag oder einer zu viel ist bei Licht betrachtet nicht witzig. Situativen Humor nennt man das wohl, oder Übersprungsalbernheit. Wenn alles um mich herum gehalten und getragen ist von Ritualen und Formen, dann will etwas in mir umso ungezügelter ausbrechen und jetzt hier sofort einen Kopfstand machen oder meiner Sitznachbarin einen Witz erzählen. Ist dieses innere Glucksen ein besonders perfider Widerstand gegen die Übung? Egal, was es ist: Zazen ist sicher gut dafür. Nicht, weil ich mir das austreiben müsste. Aber alles hat seine Zeit, und jetzt ist Sitzen.
Neben der Arbeit in der Hauswirtschaft und dem Klangschalendienst bin ich auch für den Schließdienst eingeteilt. Das bedeutet, um kurz vor fünf am Morgen die Außentüren zu öffnen. Das Aufschließen ist eine freundliche Geste. Man macht das Licht an und öffnet dem Tag die Tür. Am Nikolausmorgen platziere ich auf den Zendo-Altar einen Nikolaus aus Schokolade. Es ist Rohatsu, das intensivste Sesshin des Jahres, da geht es am Hof noch ein wenig strenger zu als sonst. Schnell husche ich hinaus und spähe später von draußen durch die kleinen Fenster. Noch steht der Nikolaus. Noch steht er. Am Himmel regnet es Sternschnuppen, ich lache lautlos in mich hinein und beiße in ein Stück Schokolade. Das Leben ist schön.
Obwohl ich mich auf die Stille gefreut hatte, halte ich sie an manchen Tagen schwer aus. Andrea Hetkamp, die mit viel Hingabe und Verständnis uns Langzeitgäste betreut, hatte zu Beginn vorgeschlagen, die eigenen Ausweichmanöver zu beobachten. An einem Ort mit relativ festem Rahmen sind sie leicht zu bemerken. Mit Mitarbeiter*innen einen unschuldigen Schwatz halten, ein freundliches Wort austauschen, da kann doch nichts dabei sein. Auf dem Spaziergang Musik hören und dabei emotional in Wallung geraten. Wann habe ich das letzte Mal überhaupt so intensiv Musik gehört? Da ist doch nichts dabei! Doch einmal in das E-Mail-Postfach schauen, da ist doch nichts dabei. Oder?
Mein Gehör scheint sich zu verfeinern. Alles ist plötzlich laut. Laut sind die Flugzeuge im Landeanflug nach Frankfurt, die über den Hof hinwegziehen und die Kettensägen der Waldarbeiter. Laut ist das Schlagen der Hölzchen, tut man es nicht mit Sorgfalt, laut geht es in der Hauswirtschaft zu (die geschäftige Lautstärke von Menschen, die hier gerne arbeiten). Laut klingt von fern der Pürierstab in der Küche, und sind die Staubsauger ab 8 Uhr früh. Laut husten die Erkälteten und die Asthmatikerinnen im Meditationsraum, und laut telefoniert jemand auf dem Hof, der vergessen hat, dass auf dem Hof nicht telefoniert wird.
Am lautesten ist es jedoch immer noch in mir drin, du meine Güte.
Krach macht zum Beispiel die Sorge um einen Stift, den ich verloren glaube und einen ganzen Nachmittag in einem Anfall kaskadierender Verzweiflung suche. In meinem Zimmer, im Schrank, in Taschen, unter Bett und Tisch suche ich ihn, im Meditationsraum und auf den Fluren. Ich schreibe einen Zettel und lege ihn auf das Pult vor dem Raum: Wer hat meinen Pentel EnerGel Stift gesehen? Ohne ihn kann ich keine Gedichte schreiben.
Bis ein anderer Langzeitgast auf mich zukommt und mir aufopferungswillig seinen eigenen Tintenroller anbietet, er hätte doch zwei, habe ich den Stift wiedergefunden – im Stifte-Etui.
Tag 8. Ich notiere nur einen einzigen Satz in mein Tagebuch: Heute halte ich die Klappe. Der Sinn des Hierseins ist es nicht, mit allen zu schäkern, mich mit allen bekannt zu machen. Ich sehe mich überdeutlich im Spiegel und möchte hineinspucken. Da sind sie, Eitelkeit, Gefallenwollen, Hochmut, der ganze Club der Unausstehlichen ist pünktlich zum Dienst erschienen. Schwer auszuhalten ist das, und kann ich es trotzdem? Das Zen-Motto „Form ist Leerheit, Leerheit ist Form“, das die Substanzlosigkeit aller Dinge zum Ausdruck bringt, ist an solchen Tagen durchaus trostbringend.
Bild 3: Den Busfahrplan studieren
In der Halbzeit nach einer Woche folgen einige Tage, an denen ich mich innerlich über alles und jeden beschwere. Das Essen ist zu salzig, die Wand, auf die ich schaue zu weiß, die Texte, die wir rezitieren, zu christlich und so weiter ad nauseam. Das Verb sich beschweren ist großartig, denn diejenige, der es bei dieser Aktivität nicht gut geht, ist aufgrund der reflexiven Form gleich mitbenannt. Vermeintlich beschwere ich mich über etwas, aber gleichzeitig beschwere ich mich mit etwas, in dem ich ein vermeintliches Problem mit mir herumtrage wie schwere Steine in den Hosentaschen.
Wenn ich meine Beschwerde kundtue, stopfe ich die Steine auch noch in die Taschen anderer. Natürlich gibt es einen Auslöser für meine unterirdische Laune, aber Auslöser gibt es, so lange wir atmen. Der Satz eines anderen Gastes, die erzählte, mindestens einmal pro Woche abreisen zu wollen, fällt mir ein. Jetzt will ich auch gehen, schleppe mich durch die Tage, stapfe wütend durch den winterlichen Wald, schaue mir mehrmals täglich die Abfahrtszeiten des Busses an (mit dieser Aktivität ist man in Holzkirchen schnell fertig). Dabei mag ich diesen Ort doch so sehr, war schon sieben Mal hier dieses Jahr. Darüber hinaus würde es mit der Abreise nicht besser werden, das weiß ich. Es ist nicht so, dass ich gerne Dinge abbreche. Aber wenn ich auf mein Leben schaue, gibt es eine gewisse Tendenz zum Kurzschluss, zur voreiligen Entscheidung. Das Sitzenbleiben, das wir in Zazen oder der kontemplativen Meditation üben, ist natürlich das allerbeste Gegengift. Und doch dauert es, bis mir die feine Ironie der Situation bewusst wird. Don’t move, don’t scratch, don’t invite your thoughts to tea, wie es bei Suzuki Roshi heißt. Die Essenz der Zen-Übung. Dass ich von der Abfahrt mit quietschenden Reifen fantasieren würde, hätte ich mir vor dem Langzeitaufenthalt nicht vorstellen können. Aha, so ist das. Nach einigen Tagen ist der Kummer verschwunden, so unvermittelt, wie er aufgetaucht war.
Bild 4: Die Tempelglocke schlagen
In der zweiten Woche obliegt mir die Aufgabe, die Außenglocke zum Abend zu schlagen. Ich widme mich mit jeder Faser meines Körpers den Hammerschlägen im Rhythmus, wie er überall auf der Welt in Zen-Klöstern geschlagen wird. Ein schönes Gefühl, diesen Rhythmus zu teilen mit so vielen Orten. Zuvor verbeuge mich vor der Hansho, schalte die Taschenlampe an, versuche zielsicher den Hammer auf die kleine runde Fläche zu richten. 20:49:57. Wieder brennt die Zeit sich geradezu in mich ein. Während keiner anderen Aufgabe am Hof bin ich so gegenwärtig, nur dieser Schlag, nur dieser, nur dieser.
Es gibt eine Myriade Weisen, die immer gleiche Abfolge zu schlagen. Wenn ich fertig bin, höre ich, wie in den Sesshins im Haus das Abendritual vollzogen wird, und so bleibe ich gerne draußen stehen. Manchmal höre ich das Han-Brett in Antwort auf meine Glockenschläge. Dann wird traditionell der Abend mit dem Nachtspruch beschlossen:
Alle Lebewesen, die diese Glocke hören (oder nicht hören, wie Manfred Rosen gerne anfügt), mögen Trost erfahren in ihrem Leid und Frieden finden in ihrem Leben. Alle Wesen mögen glücklich sein.
Das Schlagen der Glocke ist, wenn man möchte, ein Sinnbild. Es gibt keine richtige oder falsche Weise, die Aufgabe auszuführen, und doch und doch und doch. Das Wetter hat zum Beispiel erstaunlichen Einfluss auf den Klang. Bei Frost klingt es anders als bei Regenwetter, genauso bei einem ungeduldigen oder unsicheren Hammer. Ein anderer Langzeitgast kommentiert diese Eigenheiten in schönstem Fränkisch: Die Glocke is a richtig’s Biest. Während der Schläge verschwimmen die Grenzen zwischen Glocke und meinem Körper, er resoniert und schwingt mit, die Schallwellen gehen durch ihn hindurch. Der Schlag beginnt irgendwo in meinem tiefsten Inneren mit einem Nervenimpuls und wandert dann hinaus. Oder vielleicht war der Klang auch schon vorher da. Jedenfalls bleibt kein Grashalm unberührt vom Glockenklang. Und so schlage ich auch mich selbst an mit dem hölzernen Hammer und werde von den zehntausend Dingen angerührt. Wir sind die Glocke und wir sind der Hammer. Durch beides klingt die Leere an.
Aktuell freie Termine für Langzeitgäste 2025:
23. März bis 6. April
6. April bis 20. April
20. April bis 4. Mai
4. Mai bis 18. Mai
18. Mai bis 1. Juni
1. Juni bis 15. Juni
sowie durchgehend freie Plätze von 29. Juni bis 19. Oktober
Mehr Infos und Kontakt: Andrea Hetkamp (andrea.hetkamp@benediktushof-holzkirchen.de)