Innere Schatten und Dämonen

von Dagmar Buxbaum, Zen-Lehrerin der Zen-Linie „Leere Wolke“ (W. Jäger)

Im Augenblick haben wir noch Oktober, den goldenen Oktober, den Altweibersommer. Noch können wir in der Sonne sitzen, wandern gehen und uns an den wunderbaren Herbstfarben erfreuen. Dagegen kommt der November häufig trüb und nebelig daher. Die Bäume werden kahl und ragen mit ihren Ästen wie mahnende Finger in den Himmel; es ist dunkel, kalt. Wir ziehen uns in die Häuser, die warmen Räume zurück. Viele erzählen mir, wie sehr ihnen vor der dunklen Jahreszeit graut, wenn alles grau in grau ist. Was ist so schlimm an dieser dunklen Zeit? Wofür fürchten wir uns? Wirklich vor der Dunkelheit, der äußeren Dunkelheit? Oder vor unserer eigenen, inneren Dunkelheit? Unseren eigenen Schatten? Die uns vermehrt verfolgen, weil wir uns weniger ablenken können, uns Kälte und Dunkelheit in die vier Wände zwingen?

Schatten

Wir kommen mehr mit uns selbst in Berührung – mit Dingen, die wir nicht fühlen, vielleicht lieber verdrängen wollen oder auch schon glaubten, überwunden zu haben. Immer wieder bekomme ich Fragen dazu gestellt: Wie gehe ich damit um – mit meinen Ängsten, meinen Zweifeln und meinen vermeintlichen Unzulänglichkeiten und Fehlern? Wir alle kennen diese Gefühle und auch den damit einhergehenden Wunsch, ausweichen oder weglaufen zu wollen, die unerwünschten Gefühle wegerklären zu wollen. Aber irgendwann funktioniert das einfach nicht mehr. Lasst mich dazu ein paar Fragen aufwerfen, aus dem Blickwinkel des Zen:

Es gibt kein Ich, beziehungsweise das Ich ist keine in sich feststehende, in sich gleichbleibende Instanz, vielmehr kreiert sich das Ich in jedem Augenblick neu. Augenblick für Augenblick. Dadurch ergibt sich die Frage: Wer hat Angst? Wer hat diese Zweifel? Das bedeutet: Wenn wir so auf die Angst blicken, hat nicht nur das Ich keine eigene Substanz, sondern auch die Angst nicht. Alles, so auch die Angst, zum Beispiel vor Einsamkeit, sowie auch alle anderen Gefühle, entsteht aus einer wechselseitigen Bedingtheit oder Wechselbeziehung heraus. Oft höre ich, dass wir unsere dunklen oder negativen Aspekte in uns integrieren müssen – und dann sei alles gut. Aber da schon immer alles das EINE ist und wir auch schon immer das EINE waren und sind, wie kann das, was wir integrieren wollen, außerhalb des EINEN sein? Was auch immer dieses „Außerhalb“ sein mag. Was wollen wir dann wohin integrieren?

Letztendlich ist alles leer –
Gedanken, Worte und Gefühle,
Licht und Schatten,
Buddhas und Dämonen.
Selbst Leere ist leer.

(Dagmar Buxbaum)

 

Auf den Punkt gebracht bedeutet das für uns: Wenn das Ich eine sogenannte Illusion – ohne Bestand, ohne eigene Substanz – ist und beispielsweise Angst, die aus einer wechselseitigen Bedingtheit, einer Wechselbeziehung entsteht, also auch keine eigene Substanz hat – sprich eine Illusion ist –, so kann man sagen: Alle Phänomene sind leer, da sie ohne eigene Substanz sind. Also ist Angst auch leer.

In der Praxis heißt das: Wir setzen uns aufs Kissen und fühlen, wie die Angst erscheint. Wir nehmen sie wahr, konfrontieren uns auch damit. Immer wieder. Und beobachten uns. Neugierig und offen. Wir beobachten unser Ich und unsere Angst. Wir laufen innerlich nicht weg. Wir bleiben mitten im Gefühl stehen. Innehalten mittendrin. Vielleicht gelingt uns das am Anfang auch nur kurz. Eine gute Übung ist, hier bei der Atmung zu bleiben. Um im Gefühl verweilen zu können, nicht um etwas weg zu atmen. Sondern aushalten. Mich aushalten. Das Gefühl aushalten. Es gehört oft Mut dazu, aber manchmal brauchen wir unseren ganzen Mut, uns selbst zu begegnen, den eigenen Ängsten, unserer eigenen Dunkelheit ins Gesicht zu schauen, uns damit zu konfrontieren.

Stehenbleiben

Irgendwann ist die Wahrnehmung, die Erfahrung da, dass da niemand ist. Sondern da ist einfach nur das Gefühl der Angst. Die Person ist verschwunden. Und auch damit sitzen wir weiter. Mit der Angst. Bis auch hier die Wahrnehmung auftaucht, dass diese Angst eine Illusion, in sich leer ist. Und dann ist da niemand mehr und auch keine Angst mehr. Einfach nur Leere. Alle Dinge sind leer – alle Phänomene sind leer.

Diese Leere muss erfahren werden, wir müssen sie verkörpern. Es reicht nicht, nur darum zu wissen oder über unseren Verstand zu verstehen. Nur die Erfahrung hilft uns, macht uns ganz, wieder heil in seinem ursprünglichen Sinn.

So kehren wir zurück in die Welt (der Formen und Phänomene) – nach dieser Erfahrung – und können mit unseren Gefühlen neu umgehen. Wir haben einen anderen Blickwinkel, mit mehr Tiefe, Einsicht und Verständnis.

Und wir müssen in die Welt zurückkehren – wie auf dem zehnten und letzten Ochsenbild dargestellt –, denn in der Leere zu bleiben ist letztendlich eine Flucht aus der Welt. Wie auch das Weglaufen vor den Phänomenen der Welt, sie nicht fühlen zu wollen oder sie sich wegerklären zu wollen, eine Flucht ist – vor der Welt. Denn beides bedingt sich gegenseitig: Welt und Leere.

Denn letztendlich gilt:

„Form ist Leere.
Leere ist Form“

(Herzsutra)

Autorinnengespräch

Das Autorinnengespräch mit Dagmar Buxbaum findet am Dienstag,
24. Oktober, um 19:30 Uhr statt – online & kostenfrei via Zoom.

Zum spirituellen Impulsbeitrag gibt es das „Autorinnengespräch“, ein Format, in dem sich interessierte Leser*innen und Kursteilnehmer*innen des Benediktushof zusammen finden, um gemeinsam mit dem Autor/der Autorin über den Impuls zu reflektieren.  Der gemeinsame Austausch kann eine sinnvolle und hilfreiche Ergänzung zur eigenen spirituellen Praxis sein. Der Ablauf ist dabei stets: Vortrag – Austausch in Kleingruppen – Fragen & Antworten im Plenum. Das ganze findet kostenfrei, online via Zoom statt. Anmeldung über den Button unten (gleicher Link wie beim Online-Sitzen in Stille).

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