In Frieden sein – was heißt das?
Spiritualität und Frieden – fünf spirituelle Lehrer des Zen, der Kontemplation sowie aus der sufistischen und kabbalistischen Tradition sprechen über inneren und äußeren Frieden und verantwortungsvolles Handeln
Die Reaktion kam unvermittelt und auf sehr berührende Weise spontan: Als ich mich mit Ingo Taleb Rashid, Sheikh und Oberhaupt der Naqshbandi-Rashidiya Sufi-Tradition, im Rahmen seines Kurses „Sehnsucht nach Frieden“ im März zum ersten Gespräch zum Thema Frieden am Benediktushof treffe, schlägt er sofort vor, die Sängerin Shura Lipovsky mit ins Projekt zu holen. Die niederländische Liedermacherin inspiriert auf der Bühne mit jiddischen Liedern, studierte Kabbala und begleitet seit vielen Jahren Menschen als spirituell und psychologisch geschulter Coach. Tatsächlich bejaht sie binnen kurzer Zeit freudig unsere Anfrage. Schon beim Sommersymposium 2023 musizierten der Sufi-Sheikh und die jiddische Sängerin gemeinsam im Zendo und zeigten, wie wertschätzend unterschiedliche spirituelle Traditionen Seite an Seite agieren.
Insgesamt fünf Kursleiter vom Benediktushof kommen in unserem Projekt zu Wort, die vier spirituelle Traditionen – das Zen, die Kontemplation, den Sufismus und die Kabbala – vertreten. Im Gespräch beschreiben sie Wege zum Frieden mit sich selbst, aber auch ihr Engagement für spirituelle Projekte, die sich konkret dem Frieden widmen. Dabei spielen Elemente und Orte eine Rolle, die zutiefst für unser Menschsein stehen: das Wasser, Klänge und Musik, Tanz und Bewegung – sowie das Mitgefühl und das Böse, wie es ein symbolträchtiger Ort wie Auschwitz symbolisiert.
Die Kursleiter und ihre Projekte:
Ingo Taleb Rashid: „Sehnsucht nach Frieden“
Ingo, du hast im März am Benediktushof einen Kurs zum Thema „Sehnsucht nach Frieden“ gehalten. Welche Relevanz hat das Thema Frieden in der Spiritualität?
Ingo Taleb Rashid: Die spirituelle Praxis hilft uns, mit uns selbst in Frieden zu kommen. Und dieser innere Frieden in uns kann unser Beitrag zum Frieden in der Welt sein. Betrachten wir uns als Einzelperson mag das unerheblich erscheinen. Setzen viele Menschen das um, wirkt sich das aus.
In Frieden mit uns kommen, was heißt das?
ITR: Wir Menschen leiden unter der Entfremdung von uns selbst. Hier, in der der sogenannten westlichen Welt, leben wir in Freiheit, Wohlstand und weitgehender Sicherheit – anders als ein Großteil der Weltbevölkerung -, und verhalten uns gleichzeitig aggressiv-unzufrieden. Wie kann das sein? Wie viel Energie könnten wir sparen, wenn wir einfach lernen zu sein, anstatt dauernd etwas darstellen und beweisen zu müssen?
Du selbst bist Sheikh und Oberhaupt der Naqshbandi-Rashidiya Sufi-Tradition und begleitest seit Jahrzehnten Menschen auf dem spirituellen Weg. Was hat dich geprägt?
ITR: In meiner Tradition gibt es den Begriff „Amin Allah“, das Vertrauen in das Göttliche, das Urvertrauen. Dieses Vertrauen zu entwickeln, führt uns zu wirklichem Selbstwert. Der erste Schritt dabei ist, unseren physischen Innenraum zurückerobern und das Sich-Spüren, das Sein wieder zu kultivieren. Wenn wir mit uns selbst in Kontakt sind, haben weniger Angst. Unsere Perspektive kann über die Ich-Bezogenheit hinausgehen. Es gibt viele Beispiele, die eindrucksvoll zeigen, wie tief verbunden wir uns als Menschen fühlen. Wenn beispielsweise Frontsoldaten zu Weihnachten aufhören zu kämpfen und stattdessen gemeinsam feiern und ihre Vorräte teilen.
Was vermittelst du Menschen in der spirituellen Begleitung?
ITR: Welche spirituelle Praxis den Menschen jeweils am besten unterstützt, ist individuell. Für manche Menschen ist das Sitzen in Stille hilfreich, für andere ist Bewegung produktiver, oft ist es eine Mischung aus beidem, so wie es auch am Hof praktiziert wird. In meinen Kursen kommen Menschen verschiedenster Nationen zusammen, tanzen und spielen Theater – beides beschäftigt sich beispielsweise intensiv mit dem Umgang von Konflikten. Der Umgang mit Konflikten ist eine der unmittelbarsten Friedensübungen: Das Einstehen für meine Überzeugung, ohne meine Mitmenschen überzeugen zu müssen, weil ich ihre Haltung tolerieren kann.
Brigitte van Baren: Lebendiges Wasser für Frieden
Brigitte, du hast die weltweite Bewegung „Thirsty für peace“ mitbegründet. Zwei Kernthemen Eurer Praxis sind dabei Frieden und Wasser: Wie bedingt sich das gegenseitig?
Brigitte van Baren: Bei Tao Te King heißt es “Ein tugendhafter Mensch ist wie Wasser, das sich an den perfekten Ort anpasst. Sein Geist ist wie das tiefe Wasser, ruhig und friedlich. Sein Herz ist gütig wie Wasser, das allem zugute kommt.” Obwohl wir täglich Wasser trinken und brauchen, haben wir unsere innere Beziehung zum Wasser verloren.
Alle Religionen – und auch spirituellen Traditionen wie Zen – bestätigen und schätzen den Wert des Wassers. Wir Menschen sind größtenteils Teil Wasser – und unsere Emotionen und Gefühle bestimmen, ob das Wasser in uns selbst friedsam oder unruhig ist. Das hat Auswirkungen auf unserer Umfeld, unsere Freunde, Familie, usw.
Wer steht hinter der Bewegung, was ist die Philosophie und die konkreten Projekte?
BvB: Living Peace Projects Foundation ist eine Gemeinschaft von spirituellen Meistern, Botschaftern und Wasserexperten. Wir wollen weltweit Aufmerksamkeit auf die Wichtigkeit von lebendigem Wasser lenken. Unsere Mission ist es, allen Menschen den Zugang zu gesundem, lebendigem Wasser zu ermöglichen. Das geschieht durch die Initiative von Wasser-Erziehungsprojekten weltweit. Einer der Schwerpunkte ist Indien.
Warum ist das Projekt, und das Thema Wasser ein besonderes Anliegen für dich?
BvB: Als Mitbegründerin dieser Foundation glaube ich, dass die Spirituelle Meister stärker als andere in der Lage sind, das Bewusstsein für den Wert des lebendigen Wassers ihren Schülern weiter zu vermitteln. Wenn sie mit friedlichen Gedanken dem Wasser entgegentreten, und ihre Schüler ihrem Beispiel folgen, werden wir allmählich imstande sein, mehr Frieden in uns selbst und mit anderen zu realisieren. Es geht dabei auch um ein liebevolles Betrachten des Wassers in uns selbst. Bewusst und friedlich Wasser zu trinken, die Begegnung mit Brunnen und Flüssen in der Natur und die friedliche Betrachtung als lebendige Wesen – dies alles hat eine unmittelbare heilende Wirkung auf die innere und äußere Struktur des Wassers. Lebendiges Wasser könnte uns zum Frieden transformieren, es braucht allerdings unser Engagement und unsere Aufmerksamkeit.
„In Zeiten des Krieges
lass in dir den Geist des Mitgefühls entstehen.
Hilf den Lebewesen,
überwinde den Wunsch zu kämpfen.
Wo immer die Schlacht tobt,
nutze all‘ deine Macht,
die Kräfte beider Seiten gleich zu halten
und tritt ein in den Streit, um zu versöhnen“
Aus dem Vimalakirti Nirdesha Sutra
Cornelius von Collande: Sozial engagiertes Zen der Zen-Peacemakers
Cornelius, du engagierst dich seit vielen Jahren bei den Zen-Peacemakern in der Tradition von Bernie Glassman. Magst du uns kurz die Inhalte Eurer Tätigkeit skizzieren?
Cornelius von Collande: Als Zen-Peacemaker (Friedensstifter) gehe ich nicht der Frage nach: „Was soll ich tun?“. Ich folge vielmehr der Frage: „Welche Haltung ist Not-wendig, damit getan wird, was zu tun ist?“ Als Orientierung folge ich dabei den drei Grundsätzen der Zen-Peacemakers: Der erste lautet „Nicht wissen“, denn Nichtwissen sprengt Konzepte und Vorurteile, Nichtwissen ist der Zustand offener Präsenz.
Der zweite lautet „Bezeugen“, also das Sich verbinden mit einem Individuum, einer Situation, einem Ort. Bezeugen ist der Prozess vom Nichtwissen zum intimen Begreifen. Der dritte „Handeln“ – ein Handeln, das aus „Nicht wissen“ und „Bezeugen“ entsteht. Eine ganzheitliche, angemessene Antwort, die jetzt, für diese Person, diesen Ort, diese Situation am angemessensten ist.
Was sind eure konkreten Projekte?
CvC: Die Zen-Peacemaker kommen zu den Sesshins am Benediktushof, darüber hinaus findet am Hof auch das Zen-Peacemaker-Retreat zu den „Drei Grundsätzen“ statt. Einmal im Jahr findet ein mehrtägiges Retreat im ehemaligen KZ in Auschwitz statt, inzwischen seit über 25 Jahren.
Stilles Sitzen an einem Ort wie Auschwitz, den viele Menschen mit dem Gegenteil von Frieden und Menschlichkeit verbinden. Was war deine Erfahrung?
CvC: So wie sich eine Gruppe von Israeli und Palästinensern zum gemeinsamen Betrauern des Todes ihrer Kinder zusammengefunden hat, so gehen die Zen-Peacemaker an schwierige Orte, um dort gemeinsam dem zu begegnen, was wir einander antun. Fünf Tage meditieren in Auschwitz. Ich hatte meine Vorstellungen über einen Ort des Schreckens, aber was ich fand war ein Ort, an dem Trauer und Freude, Verzweiflung und Hoffnung, Hass und Liebe, Weinen und Lachen auf unfassbare Weise miteinander verwoben sind. Ein Ort, der ständig dein Sein in Frage stellt, ein Ort, der dich nicht auslässt, der dich nicht zur Tagesordnung übergehen lässt. Ein Ort, der Frieden stiftet.
Shura Lipovsky: „Nicht gegen das Böse streiten, sondern für das Gute“
Welche Rolle spielt für dich das Thema Frieden bei deiner Tätigkeit als jüdische Liedermacherin und spirituelle Begleiterin?
Shura Lipovsky: Man kann sagen, ich bin total mittendrin. Wenn ich als Künstlerin auf der Bühne stehe, ist das Thema Frieden aktuell sehr spürbar. Ich habe 100 Tage nach dem Anschlag der Hamas ein großes Konzert gegeben. Etwa die Hälfte des Publikums war jüdisch, die andere Hälfte nicht – und alle waren vereint in ihrem Entsetzen und Leid, über das was gerade passiert.
Ich versuche, nicht für eine Seite Partei zu ergreifen, es geht darum, das Leid aller Menschen zu sehen und zu respektieren. Mir ist es wichtig, dass ich nicht gegen das Böse streite, sondern für das Gute.
Damit sprichst du das Thema Selbstverantwortung an…
SL: Ich habe im Zuge der aktuellen kriegerischen Konflikte in der Ukraine und in Nahost ein Lied geschrieben: „Shemt zikh der Malekh“ – der Engel, der sich schämt. Wenn Menschen ermordet werden, ist er schon zu spät und braucht selbst einen Engel, der in an seine Aufgabe erinnert. Verbunden damit ist die Frage an alle von uns: Was ist meine Aufgabe, wozu bin ich da? Was kann ich für eine bessere Welt tun? Was ist konstruktiv? Ich versuche, meine Bürgerpflicht zu tun. Nach den Anschlägen habe Politiker aus dem Knesset angeschrieben und habe inständig gebeten, von kriegerischen Reaktionen abzusehen. Das ist, was ich tun kann. Darüber hinaus kann ich versuchen, in meinem eigenen Umfeld, mit den Menschen, meinen Schülern, bei meinen Konzerten, auf der Bühne mit meinen Musikern in Frieden und Harmonie zu sein. Dazu gehört auch, Konflikte konstruktiv zu lösen. Dieser konstruktive Umgang mit Konflikten ist ein entscheidender Beitrag zum Frieden.
Beim Sommersymposium 2023 war das Publikum sehr berührt von der verbindenden Kraft beim gemeinsamen Singen mit dir. Welchen Einfluss haben Musik und Klang auf unseren inneren Frieden?
SL: Im Französischen unterscheiden sich die Worte für Stimme „Voix“ und Weg „Voie“ nur durch einen Buchstaben, das gefällt mir sehr. Das heißt, dass ich alles – die Musik, die Klänge – verbinde mit Lebensfragen, mit unserem Weg. Beim Singen sind wir immer auch verbunden mit unserem Körper und unseren Themen. Kunst und Kreativität können uns unterstützen, tiefere, unbewusste Seelenschichten zu erkennen und zu integrieren. Das ist auch der Ansatz der Psychosynthese, mit der ich arbeite. Auch bei meinen Auftritten motiviere ich die Menschen immer wieder, in Bewegung zu kommen. Aber der Mensch ist keine Maschine, die auf Knopfdruck funktioniert. Ich stelle mich immer wieder neu ein, auf den Moment, auf die Menschen, alles ist immer wieder einzigartig. Der Mensch ist ein Mysterium. Das Problem ist, dass wir nicht genügend Ehrfurcht für das Mysterium Mensch, Geist und Seele haben.
Deine spirituelle Heimat ist die Kabbala, die jüdische Mystik. Was prägt dich besonders – gerade auch in Hinblick auf das Thema Frieden?
SL: Ein bewegendes Dokument sind für mich die Tagebücher der Holländerin Etty Hillesum. Sie war Chronistin im Holocaust und suchte selbst in den schlimmsten Zeiten nach einem Licht in dieser Hölle auf Erden. In ihren Texten ringt sie immer wieder neu mit ihrem inneren Frieden ringt. Es gibt nichts, das absolut gut oder absolut schlecht ist. Auch die Liebe nicht. Zu wenig Abgrenzung schadet uns ebenso wie ein dicker Panzer, hinter dem wir uns verbergen. Es geht darum, die Balance immer wieder auszutarieren. Im Kabbala gibt es das Modell des Lebensbaums, der all unsere Erfahrungen, Elemente und Ereignisse vereinigt.
In einem chassidischen Lied heißt es: Wir sind Perlen auf einer Schnur. Wenn wir erkennen, dass wir alle Perlen sind, dann ist eine neue Zeit gekommen. Aber sie kommt sehr, sehr, sehr, sehr langsam. Und wenn wir auch damit in Frieden sind, dann kann die neue Zeit, die Zeit eines friedlicheren Bewusstseins, auch plötzlich da sein.
Fernand Braun: Mit der Herzenspraxis Zugang zur eigenen Tiefe finden
Fernand, welche Relevanz hat das Thema „Frieden“ in der Praxis der Kontemplation?
Fernand Braun: Es gibt einen Frieden in uns, der unserem Wesen eigen ist. Diesen Frieden in uns zu erkennen und zu erfahren, das ist der Ausgangspunkt des friedvollen Weges. Auf diesem Hintergrund können wir verstehen, wenn es heißt: Es gibt keinen Weg zum Frieden – Frieden ist der Weg. Nur wenn wir in Frieden sind mit uns, kann wirklicher Frieden zwischen Menschen und Völkern existieren. Frieden in der Welt kann nur dann wirklich gelingen, wenn wir zunächst friedvoll uns selbst gegenüber sind, das heißt uns selbst unvoreingenommen und mitfühlend zu begegnen. Denn alles, was wir ablehnen, gewinnt Kraft in uns.
Wie kann das gelingen?
FB: Die „Herzenspraxis“ ist eine wesentliche Übung in meinen Kontemplationskursen. Das Herz verstehe ich als das Wesen des Menschen. Das Herz ist vorurteilsfrei, weit und offen. In der „Herzenspraxis“ geht es darum, wieder Zugang zu finden zu unserer eigenen Tiefe, der ursprünglichen Wesensnatur, die mitfühlend und liebend ist. Es unterscheidet nicht zwischen gut und böse, richtig und falsch.
In unserem Menschsein, egal, welcher Herkunft oder welchen Glaubens, sind wir ebenbürtig. Jede Person verdient es, in seinem Menschsein anerkannt zu werden. Wenn wir unsere Angst und Überlegenheit aufgeben und allen einen Platz in unserem Herzen geben, werden wir dadurch reicher und menschlicher. Ich glaube, es ist das, was Jesus unter „Feindesliebe“ meinte.
Was hat dich in Punkto inneren Frieden spirituell besonders geprägt?
Fernand Braun: Es ist dies auch die Erfahrung, die ich persönlich machen durfte, als ich inmitten des Lagers in Auschwitz von tiefem Mitgefühl ergriffen wurde. Auf der Ebene reinen Mitgefühls und bedingungsloser Liebe gibt es keinen spürbaren Unterschied zwischen Opfer und Täter. Reines Mitgefühl ist wie das „Licht der Sonne, das ohne Unterschied auf Gute und Böse strahlt“, wie es in der Hl. Schrift steht.
Harald Homberger und ich fahren seit Jahren mit einer Gruppe von Menschen nach Auschwitz. Im Wesentlichen geht es darum, uns der „Zeugenschaft“ zu öffnen, das heißt uns in einer Haltung der Unvoreingenommenheit und der Demut berühren zu lassen von dem Unfassbaren, das dort geschehen ist, und eine angemessene Haltung zu dem zu finden. Es braucht eine große Bereitschaft, von allem zu lernen. Es ist ein Weg der Versöhnung und damit auch des Friedens, die eine große Kraft freisetzen kann.