In die Zukunft schauen?

von Alexander Poraj, Zenmeister der Linie „Leere Wolke“ (W. Jäger)
Mitglied der spirituellen Leitung am Benediktushof

Am Anfang eines neuen Jahres machen wir gerne Pläne und wünschen uns gegenseitig ihr Gelingen. Entgegen mancher Vermutung, ich werde gleich das Hier und Jetzt der Zukunft vorziehen, möchte ich unsere Aufmerksamkeit auf einen häufig übersehenen Aspekt richten.

Zunächst ist es wirklich unnötig, unsere Aufmerksamkeit von der Zukunft auf die Gegenwart richten zu wollen. Weshalb? Weil es die Zukunft so nicht gibt. Was es gibt, sind gegenwärtig stattfindende Gedanken, die wir mit dem Namen Zukunft etikettieren. Sie finden aber, wie alles andere auch, in dem von uns genanntem Jetzt statt.

Weg In Die Zukunft

So gesehen haben wir das Jetzt nicht verlassen und müssen es daher auch nicht erneut betreten, zum Beispiel durch die Hintertür einer ausgeklügelten Mediationsübung. In diesem Sinne ist das Zazen auch keine Übung, die uns in die Gegenwart führt. Es muss auch keine Übung geben, die uns ins „Hier und Jetzt“ führt, weil es nur Gegenwart gibt. Das ist wirklich eine gute Nachricht. Die schlechte Nachricht reiht sich sofort an die Gute an. Manche von uns fragen sich dann, wozu all die Meditation eigentlich gut sein sollte, wenn nicht als der beste Weg dazu, mit all den unnötigen Gedanken und Vorstellungen aufzuhören, die uns von der sonst so wunderbaren Gegenwart abhalten?

Wäre das so, und unsere Annahmen über die Gegenwart, die Gedanken und die Mediation würden stimmen, bliebe trotzdem eine dringliche Frage offen: Weshalb halten wir es in der Gegenwart nicht aus? Weshalb gestalten wir uns durchgehend sowohl durch Handlungen, vor allem aber durch verschiedene Vorstellungen vom Anderssein, ja Bessersein eine andere Gegenwart, die ja noch nicht da ist, weswegen wir sie dann Zukunft nennen?

„Auch das größte Erwachen ist wie das Schauen ins Universum durch ein Schilfrohr.

(Chan-Meister Joushu)

 

Es ist ein merkwürdiger Teufelskreis im Gange: wir wollen mehr im Hier und Jetzt sein, halten es aber genau im Hier und Jetzt nicht aus. Als Lösung denken wir uns in eine vorgestellte bessere Zukunft hinein. Nun aber passiert etwas Merkwürdiges: die als „besser“ vorgestellte Alternativgegenwart hält nicht das, was wir uns von ihr versprechen und zwar nicht nur als gedankliche Konstruktion in Form von Plänen oder Wünschen, sondern auch dann, wenn sie Realität geworden ist. Denn es ist unbestritten, dass viele von uns eine beträchtliche Anzahl der gesetzten Ziele erreicht haben, mit dem Ergebnis, dass wir nicht lange zufrieden sind, sondern fast nahtlos neue Vorstellungen und Wünsche kreieren. Dabei sollten wir, spätestens beim Erreichen gewichtiger Ziele, in der Gegenwart angekommen sein, oder?

Was bieten also Chan oder Zen an? Sie bieten das Durchleben unterschiedlicher Bewusstseinszustände an, von denen einige so wunderbar, ja außergewöhnlich sein können, so dass der Wunsch in uns entstehen kann, mehr oder gar endgültig in solch einem Zustand verweilen zu wollen. Ich weiß, dass eine nicht geringe Zahl von religiös/spirituellen Gemeinschaften sowohl in der Vergangenheit als auch heutzutage genau solche Ziele verfolgt. Es steht außer Zweifel, dass diverse Meditationstechniken gerade dafür geschaffen worden sind, den Praktizierenden unterschiedliche Bewusstseinszustände erlebbar zu machen. Auch Chan und Zen kennen diese Aspekte.

Was ist aber das Besondere gerade an Chan und Zen? Es ist vielleicht ein genaueres Erleben dieser Bewusstseinszustände, dass sich u.a. darin zeigt, sich mit keinem von ihnen, ganz gleich wie überwältigend sie auch sein mögen, zu identifizieren. Wie macht man das? Man bleibt einfach sitzen. Und was ist das Ergebnis davon? Man erlebt, dass auch diese Zustände bedingt sind. Noch anders und etwas zugespitzter ausgedrückt: Jeder Zustand, wie allumfassend und grenzenlos er auch erscheinen mag, ist bedingt und daher leer. Und selbst diese Einsicht ist wiederum bedingt, daher weder objektiv, noch der Wahrheit letzter Schluss.

Drehung

So gesehen ist Chan oder Zen eine Art von Salto Mortale und zwar im wahrsten Sinne des Wortes, so wir, nach einer vollständigen Drehung genau dort ankommen, wo wir bereits sind: im Hier und Jetzt.

Und was haben wir davon? Nicht nur eine wage Ahnung, dass es irgendwie ist, wie es ist, sondern eine bis in die einzelnen Zellen gehende Gewissheit, dass alles ist, wie es ist. Jetzt und Hier.

„Sicher ist, dass nichts sicher ist. Selbst das Nicht.“ (Joachim Ringelnatz)

Autorengespräch

Das Autorengespräch mit Alexander Poraj findet am Dienstag, 16. Januar, um 19:00 Uhr statt – online & kostenfrei via Zoom.

Zum spirituellen Impulsbeitrag gibt es das „Autorinnengespräch“, ein Format, in dem sich interessierte Leser*innen und Kursteilnehmer*innen des Benediktushof zusammen finden, um gemeinsam mit dem Autor/der Autorin über den Impuls zu reflektieren.  Der gemeinsame Austausch kann eine sinnvolle und hilfreiche Ergänzung zur eigenen spirituellen Praxis sein. Der Ablauf ist dabei stets: Vortrag – Austausch in Kleingruppen – Fragen & Antworten im Plenum. Das ganze findet kostenfrei, online via Zoom statt. Anmeldung über den Button unten (gleicher Link wie beim Online-Sitzen in Stille).

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Alexander Poraj

katholischer Dipl.-Theologe, Schwerpunkt Religionswissenschaften, Promotion zum Thema: „Der Begriff der Ich-Struktur in der Mystik Meister Eckeharts und im Zen-Buddhismus“. Er ist Zen-Meister der Linie "Leere Wolke" (Willigis Jäger) und von Willigis Jäger ernannter Kontemplationslehrer. Er war u. a. Geschäftsführer der Oberbergkliniken, Mitbegründer der Stiftungen West-Östliche Weisheit in Spanien und Polen sowie der Institute für persönliche Entwicklung "Euphonia" in Barcelona und Breslau. Er ist Mitglied der spirituellen Leitung des Benediktushofes, Mitglied des Präsidiums der West-Östliche Weisheit Willigis Jäger Stiftung und Geschäftsführer der Dr. Poraj & Partner GmbH in Zürich. www.alexanderporaj.de, www.drporaj.ch
 
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