„Immer wieder die Freiheit“

von Alexander Poraj, Zen-Meister der Linie „Leere Wolke“, Mitglied der spirituellen Leitung am Benediktushof

Auf der Wunschliste vieler von uns steht Freiheit an oberster Stelle. Sowohl individuell als auch kollektiv wollen wir einfach frei sein. An dieser Stelle erlaube ich mir folgende Unterstellung: Wir wünschen uns einen möglichst unbegrenzten Raum für die Ausübung unseres Willens sowie für die Umsetzung unserer Wünsche und Vorstellungen. Noch deutlicher ausgedrückt: Am liebsten möchten wir das tun und lassen, wozu wir gerade Lust haben, was uns gerade passt und was wir für richtig und wichtig halten. Punkt.

Ist damit das Verständnis der Freiheit ausgeschöpft? Mit Sicherheit nicht. Seit Jahrhunderten nämlich wird darüber debattiert, ja gestritten, was unter Freiheit verstanden werden kann und soll.

Freiheit

Konditionierungen bestimmen unser Fühlen, Denken und Handeln

Die Menge der Sichtweisen, Theorien und Glaubenssätze in Bezug auf das, was Freiheit ist und bedeutet, ist schier unüberschaubar. Ich möchte deshalb nur eine Sichtweise ansprechen und zwar eine durchaus provokative. Sie lautet: Freiheit, so wie oben beschrieben und ersehnt, gibt es nicht. Anders gesagt: Damit es die Freiheit so, wie wir sie gerne hätten, geben sollte, müsste es beispielsweise einen Träger, in unserem besonderen Fall einen Menschen geben, der in der Lage wäre, frei, also unabhängig von jeglicher Konditionierung zu handeln. Nachdem was wir mittlerweile über uns wissen, scheint gerade diese Annahme eher unwahrscheinlich zu sein.

Natürlich können wir bestimmte Impulse unterdrücken, während wir andere Impulse als aktive oder passive Handlungen vollziehen. In der Regel bezeichnen wir genau diese Fähigkeit der Impulskontrolle als Freiheit. Wir können Wut, Tränen, Fluchtreaktionen und eine ganze Reihe von anderen Impulsen und Emotionen unterdrücken. Das stimmt und das tun wir auch, häufig mit positiven Auswirkungen auf uns und die Gemeinschaft, in der wir leben. Können wir aber wirklich frei wählen, wütend oder traurig zu sein? Das Erste ja. Das Zweite nicht.

„Die Welt hat nie eine gute Definition für das Wort Freiheit gefunden

(Abraham Lincoln)

Läge jedoch nicht der Kern der Freiheit gerade in der zweiten Fähigkeit, also darin, wirklich Impulse, Emotionen, Gedanken und Gefühle wählen zu können? Ich meine ja. Denn die erste Fähigkeit, nämlich die, unterschiedliche Impulse kontrollieren zu können, teilen wir mit vielen anderen Lebewesen. Fast alle Tiere, die in Gemeinschaften leben, verfügen über zum Teil komplexe Formen der Impulskontrolle. Aber nur das Tier, welches sich selbst als Mensch bezeichnet und meint, damit kein Tier mehr zu sein, setzt Impulskontrolle mit freier Impulsbestimmung gleich. Wir können uns also darin üben, unterschiedliche Impulse kontrollieren zu können. Genau darin liegt immer noch einer der Schwerpunkte unserer Erziehung zur Teilnahme an der Gemeinschaft. Welche Impulse „erzogen“ werden und welche nicht, hängt aber nicht von objektiv existierenden Werten ab, sondern vom jeweiligen Zeitgeist und dem Dafürhalten der konkreten Gemeinschaft, in die wir hineingeboren und eben hineinerzogen werden. Bisher und meiner Meinung nach finden wir keine Spur von Freiheit.

Unzählige Wechselwirkungen kreieren unsere Ich-Perspektive

Auch wenn manche Weltanschauungsgruppen es behaupten, so spricht wenig dafür, dass wir die Tatsache unserer Geburt, die Gemeinschaft, in die wir hineingeboren werden, oder die Regeln, nach denen wir erzogen und konditioniert werden, frei wählen. Wir wählen nicht die Gedanken, die in uns entstehen, noch bestimmen wir diejenigen, die in einigen Minuten entstehen werden. Das gleiche gilt für unsere Gefühle und Emotionen. Auch die wählen wir nicht vorab und nach unabhängig existierenden Kriterien. Dagegen spricht einiges dafür, dass unsere Ich-Perspektive das von Augenblick zu Augenblick aus unzähligen Wechselwirkungen entstehende, wundervoll komplexe Ereignis ist.

Damit sind wir erneut dort angelangt, wo wir uns zugleich mit allem anderen ereignen: Inmitten des geheimnisvollen Wunders des Lebens. Und inmitten des Wunders sind uns nicht nur die anderen Menschen und Lebewesen ein Rätsel, sondern vor allem wir uns selbst. Und das ist auch gut so. Zen nämlich lüftet nicht das Geheimnis des Lebens, sondern lässt uns in seiner Mitte aufwachen.

Es grüßt Euch mit besten Wünschen für das neue Jahr

Alexander

Das Autorengespräch mit Alexander Poraj findet am Dienstag, 14. Januar um 19.30 Uhr statt – online & kostenfrei via Zoom.

Zum spirituellen Impulsbeitrag gibt es das „Autorengespräch“, ein Format, in dem sich interessierte Leser*innen und Kursteilnehmer*innen des Benediktushof zusammen finden, um gemeinsam mit dem Autor/der Autorin über den Impuls zu reflektieren.  Der gemeinsame Austausch kann eine sinnvolle und hilfreiche Ergänzung zur eigenen spirituellen Praxis sein. Der Ablauf ist dabei stets: Vortrag – Austausch in Kleingruppen – Fragen & Antworten im Plenum. Das ganze findet kostenfrei, online via Zoom statt. Anmeldung über den Button unten (gleicher Link wie beim Online-Sitzen in Stille).

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Alexander Poraj

katholischer Dipl.-Theologe, Schwerpunkt Religionswissenschaften, Promotion zum Thema: „Der Begriff der Ich-Struktur in der Mystik Meister Eckeharts und im Zen-Buddhismus“. Er ist Zen-Meister der Linie "Leere Wolke" (Willigis Jäger) und von Willigis Jäger ernannter Kontemplationslehrer. Er war u. a. Geschäftsführer der Oberbergkliniken, Mitbegründer der Stiftungen West-Östliche Weisheit in Spanien und Polen sowie der Institute für persönliche Entwicklung "Euphonia" in Barcelona und Breslau. Er ist Mitglied der spirituellen Leitung des Benediktushofes, Mitglied des Präsidiums der West-Östliche Weisheit Willigis Jäger Stiftung und Geschäftsführer der Dr. Poraj & Partner GmbH in Zürich. www.alexanderporaj.de, www.drporaj.ch