Zazen, 6.15 Uhr – ein Liebesbrief
Erfahrungsbericht einer regelmäßig Praktizierenden – Anne-Sophie Balzer beschreibt in ihrem Essay, wie das gemeinsame Online-Sitzen zu einer spirituellen Heimat wurde (auch als Audio-Datei verfügbar)
Auf einem österreichischen Bauernhof, unter 250 Jahre alten Balken; in einer Abstellkammer, die Beine eingeklemmt unterm Feldbett; in einer ehemaligen Bergarbeiterunterkunft in der Arktis: Immer ist es 6.15 Uhr, wenn ich in wechselnder Kulisse auf meinem Kissen sitze, das manchmal nur ein Kopfkissen ist. Gemeinsam mit anderen, die auch auf ihren (Kopf-)Kissen oder Bänkchen sitzen, in Holzkirchen, in Wuppertal, in Berlin, Aachen oder Würzburg.
Alone together. So habe ich die Praxis des gemeinsamen Sitzens in Stille mit der Online-Sitz-Gruppe des Benediktushofes oft empfunden. Bis zu 150 Menschen kommen dazu täglich am Morgen und am Abend auf Zoom zusammen.
Es spielt keine Rolle, ob man sich nun eher im Zen oder in der Kontemplation zu Hause fühlt, oder ganz wo anders. Sitzen ist sitzen, sagt mein Vater immer, und das gilt auch für diese Gemeinschaft. Viele meiner Sitznachbar*innen sind bestimmt schon länger dabei als ich, vielleicht seit Beginn. Das war während der ersten Corona-Zeit, als der Hof wie die ganze Welt Angebote der Gemeinschaft und Verbindung in den virtuellen Raum verlegte. Viele dieser Angebote sind inzwischen wieder verschwunden. Gerade im Bildungsbereich wurden die meisten Kurse, Workshops und Konferenzen wieder in den physischen Raum verlegt.
Dies spricht dafür, dass für die meisten Menschen das Zusammensein nicht nur zur selben Zeit, sondern auch am selben Ort eine höhere Qualität birgt. Wir wollen einander im Raum wahrnehmen. Die Intensität ist eine andere und das scheint auch an unserer Biochemie zu liegen, die das Zusammentreffen von Menschen maßgeblich prägt. Aber gerade darum kann so eine Intensitätsreduktion auch angenehm sein, etwa wenn man so früh am Morgen ungewaschen und ungekämmt mit Unbekannten zusammen meditiert.
Geliebtes Morgenritual: Im Nachthemd auf das Sitzkissen
Um 5.15 Uhr wache ich in der Regel auf, wasche mir das Gesicht. Dann setze ich mir einen Kaffee auf und schreibe für einige Zeit. Geliebtes Morgenritual. Meist ist noch Zeit für einige Dehnübungen, die meinen nachtversteiften Körper wecken und mir das Sitzen erleichtern. Ein Räucherstäbchen, eine Kerze – es geht aber auch ohne. Nun zeigt die Uhr 6.09. Ich verbeuge mich vor meinem Sitzplatz. Zu Hause muss ich ihn hin und wieder wegräumen, da ich ansonsten meinen Kleiderschrank nicht öffnen kann.
Mal im weißen robusten Nachthemd meines Urgroßvaters, mal im zerschlissenen Bademantel nehme ich Platz auf dem Kissen, pule Schlaf aus den Augenwinkeln. Laptop aufklappen, Bildschirm so dunkel wie möglich machen und etwas von mir wegdrehen, Ton halblaut stellen und einwählen. Meist schauen mich dann schon freundliche, ebenso schlafgezeichnete Gesichter an, von Marianne, Klaus, Michael, von Lili, Franz, Anette, Steffen und wie ihr alle heißt. Viele von euch kenne ich mittlerweile, aber eben nur “vom Sehen”.
Jeden Morgen und Abend sind es diese Gesichter von Menschen auf kleinen Rechtecken, mit denen ich noch nie ein Wort gewechselt habe und doch täglich den Meditationsraum teile. Wir sitzen zusammen, auch wenn wir sonstwo sitzen, auch wenn wir sonst vielleicht im Leben wenig teilen mögen. Doch was wir teilen, fühlt sich auf der einen Seite ungeheuer intim an und auf der anderen wie das Gewöhnlichste auf der Welt. Zusammenatmen. Zusammen den Gedanken beim Spazieren zuschauen. Gemeinsam still werden. So habt ihr euch an mein Herz gelegt.
„Willkommen in der Stille. Seid herzlich gegrüßt zum gemeinsamen Sitzen. Ich wünsche euch einen guten Morgen und begrüße euch ganz herzlich zum gemeinsamen Sitzen.“
Digitaler Raum wird zur spirituellen Heimat
Mittlerweile erkenne ich an den ersten Worten, wer die Meditation anleitet, ob es Blandina ist oder Rudolf oder Elsbeth oder Petra, Maria, Susanne, Dagmar, Fernand und wie ihr alle heißt. Auch die Lieblingsautor*innen der Lehrer*innen sind mir vertraut: Silvia Ostertag für Blandina, Kodo Sawaki für Rudolf, genauso wie ihre immer leicht abweichenden Abfolgen, die Klangschale oder Hölzchen zum Einsatz zu bringen. Immer ähnlich, immer etwas anders, das hält gut wach.
Mit Anleitung ist nur die kleinste Rahmenhandlung gemeint. Kurze Begrüßung, manchmal erklingen dabei die Hölzchen oder einfach dreimal die Klangschale. Wir sitzen eine halbe Stunde, bis der Gong das nächste Mal geläutet wird, gefolgt von einem Zitat in Form eines Gedichts, eines kleinen Denkanstoßes, einer kurzen Passage aus der Kontemplations- oder Zen-Literatur.
Diese Zitate zu Beginn des Tages fühlen sich ein wenig an wie jener Moment, als die Eltern einen vor Jahrzehnten am Schultor verabschiedeten. Mach’s gut, wird bestimmt ein schöner Tag. Abends um 21.30 Uhr wird uns eine gute Nacht gewünscht, stets mit der Anmerkung „…und wer mag, bis morgen“. Ich fühle mich in diesen Wünschen auf eine Art geborgen, die ich als Erwachsene gar nicht mehr so kenne. Schön. Auch dass viele meiner Sitznachbar*innen ihre Mikrofone am Ende laut stellen und sich bedanken.
Heute Morgen leitet uns Blandina an, drei Mal erklingt der Gong. Wie jeden Morgen spreche ich eine kleine Erinnerung in mich hinein:
Sitze hingabevoll in Zazen, lass alle Dinge los
(aus dem Bendowa, Dogen Zenji)
Ich bin hingegeben, ich bin bereit, alle Dinge loszulassen. Einatmen. Ausatmen.
Listen des Loslassens erstellen
während alle Dinge loslassen
einzige Aufgabe eigentlich ist.
Der Wasserhahn beginnt zu tropfen. Ich hatte vergessen, ihn richtig zuzudrehen. Vergessen, vergessen hallt es im Kopf nach, das klingt wie essen. Jetzt promeniert wie bestellt das Bild eines Schokoladen-Croissants vor dem inneren Auge auf und ab, dazu läuft Perfect Day von Lou Reed. Ach, Croissants müsste man viel öfter essen, auch unter der Woche, warum immer dieser Bircher-Puritanismus…
Einatmen. Annehmen. Ausatmen. Loslassen.
Das Croissant sitzt mir auf der einen Schulter, schaukelt vergnüglich, während auf der anderen eine säuerlich-ernst dreinblickende Müslimischung versucht, die Balance zu halten. Bis der Geist das Ding wieder loslässt.
Hingabe? Heute morgen nur an Schokolade und buttrigen Teig.
Manchmal stelle ich mir vor, wie es klänge, wenn unsere verdrehten, grotesken, sich endlos wiederholenden Gedanken laut wären, wir sie nicht für uns behalten könnten, wenn sie in diesem Zoom-Raum von den Wänden widerhallten. Tohuwabohu.
Im Sommer war ich zwei Monate auf Reisen. Das bedeutete zunächst viele Ortswechsel, von einer Gästecouch auf die nächste. Anschließend verbrachte ich einen Monat lang auf Spitzbergen, ziemlich am nördlichsten Rand der für Menschen bewohnbaren Welt. Dennoch konnte ich mich dank Internetverbindung jeden Morgen zur gemeinsamen Meditation einwählen. Das Ritual mit euch allen ist mir in dieser Zeit sogar noch wertvoller geworden als in meinem gewohnten Zuhause. Einmal saß ich um 6.15 Uhr am Flughafen in Oslo, wo es einen Raum der Stille gibt. Aus Rücksicht auf die muslimischen Betenden verzichtete ich auf den Zoom-Room. Es funktionierte trotzdem, denn ich wusste: Jetzt sitzen wir alle, genau jetzt.
Die Glocke klingt in Düsseldorf, in Heilbronn, in London oder in Holzkirchen. Egal, wo sie klingt, wir sitzen allein und doch zusammen. Dafür möchte ich euch von Herzen danken.
Und wer mag, bis heute Abend, bis morgen früh.
Gassho,
Eure Anne-Sophie
Anne-Sophie Balzer arbeitet als Autorin und Journalistin und schreibt in ihrer Doktorarbeit darüber, wie zeitgenössische Lyrik sich mit der Klimakrise befasst. Wenn sie nicht sitzt, geht sie am liebsten.
Portrait von Anne-Sophie (c) Flora Wiederkehr