Heil-Sein und Wachstum

An welcher Stelle die psychologische Begleitung am Benediktushof ansetzt und welche Chancen sie für die spirituelle Praxis bietet, erläutern Michaela Nüssel und Susanne Ahnert-Braun im Interview.

 

“Deine Wahrnehmung wird nur dann klar, wenn du den Mut hast, in deine Seele zu schauen“, schreibt C. G. Jung. Jeder, der sich an die Meditationspraxis wagt, bekommt diese Verbindung irgendwann am eigenen Leib zu spüren: Je mehr wir uns in den offenen Raum der Präsenz wagen, umso deutlicher treten auf dem Kissen unsere Lebensthemen, bewusst oder verdrängt, zutage, bestimmen unsere Gedanken und Gefühle. Manchmal ist es hilfreich, Unterstützung in diesen spirituellen Raum der Präsenz, Wahrnehmung und Akzeptanz zu holen, um drängende Fragen zu klären oder den Blick auf unsere Stärken zu richten.

Michaela Nüssel und Susanne Ahnert-Braun

Der Benediktushof bietet seit Herbst 2022 daher Gästen sowie Kursteilnehmerinnen und -teilnehmern die Möglichkeit einer psychologischen Begleitung an. Wie diese in der Praxis abläuft und wie sich Spiritualität und psychologische Begleitung ergänzen und unterstützen, erklären Michaela Nüssel (rechts im Bild), Diplom-Psychologin sowie Atem- und Logotherapeutin, und Susanne Ahnert-Braun (links), Kontemplationslehrerin, Osteopathin und psychologische Beraterin, im Gespräch.

Eine Vertiefung des Themas bietet auch das aktuelle Symposium Psychotherapie „Spirituelle Krise oder Krankheit – Von der Kunst der Unterscheidung“, das von 15. bis 17. September am Benediktushof stattfinden wird. Dabei werden spannende Fragen zur Diskussion stehen: Was gilt als „normal“? Was gilt als spirituelle Krise und was als psychische Erkrankung? Kann man beides wirklich so klar voneinander trennen?

Das Interview führte Barbara Simon.

„Wenn in der Stille belastende oder immer wiederkehrende Themen auftauchen, ist es hilfreich, ihnen Raum zu geben und sich ihnen ganz zuzuwenden.“

In der Meditation, auf dem Kissen üben wir uns in der Präsenz, begegnen in diesem offenen Raum oftmals unseren Ängsten, Blockaden und unerledigten Themen. Wann kann es sinnvoll sein, über die spirituelle Praxis der Akzeptanz hinaus Themen auch psychologisch zu bearbeiten?

Michaela: In dem Moment, in dem Sitzen in Stille nicht mehr möglich ist, weil die Themen einfach zu bedrängend werden.

Susanne: Wenn in der Stille belastende oder immer wiederkehrende Themen auftauchen, ist es hilfreich, ihnen Raum zu geben und sich ihnen ganz zuzuwenden. Gehen wir wirklich in Verbindung damit, gelingt es oft besser, das zu integrieren, womit wir bisher – oft unterbewusst – haderten, und wieder neu und tiefer zur inneren Stille zurückzufinden.

Bei der therapeutischen Arbeit bezieht ihr bewusst den Körper mit ein: Susanne, du hast u.a. als Schwerpunkt die biodynamische cranio-sancrale Osteopathie, Michaela, bei dir ist es u.a. die Atemtherapie. Welche Rolle spielt unser Körper, vielleicht sogar der Schmerz beim Umgang mit schwierigen Situationen und wie kann uns die Körperarbeit bei der Praxis oder auch auf einem Heilungsweg unterstützen?

Michaela: Der Körper ist Träger ganz vielfältiger Erfahrungen, auch der schwierigen und traumatischen. Oft bleiben die Erfahrungen auf körperlicher Ebene lange gespeichert und wie festgehalten. Beziehen wir den Körper mit ein, können wir wieder in den Fluss kommen, zunächst auf der körperlichen, und dann auch auf einer psychischen und geistigen Ebene. Manchmal haben Menschen wenig Zugang zu dem, was sie empfinden und spüren. Ich erlebe das, wenn ich beispielsweise die Frage „Wo spürst du die Angst denn gerade in deinem Körper?“ stelle und das für die Person eine überraschende Perspektive ist. Und die Antwort für sie zunächst eine Herausforderung darstellt.

Meditation

Susanne: Der Körper ist ein Abbild unserer Verfassung. Unsere Erfahrungen und unsere Glaubenssätze spiegeln sich in unserer Haltung und möglicherweise in körperlichen Beschwerden wider. Jemand, der ängstlich ist, wird eine andere Körperhaltung haben als jemand, der voll Vertrauen durchs Leben geht. Wenn wir den Körper nicht einbeziehen, dann würden wir ein wichtiges Feld auslassen. Gerade weil dort oft Dinge gespeichert sind, die uns nicht bewusst sind. In der Körperarbeit kann es passieren, dass der Mensch allein durch die Hinwendung zum Körper zu tiefer Ruhe und Entspannung findet oder aber genau dadurch in Berührung kommt mit schmerzhaften Gefühlen oder Erinnerungen. Dann geht es darum, diese aufzugreifen und mit ihnen weiterzuarbeiten.

Inwiefern unterstützen spirituelle Ansätze beispielsweise das Verankern im Hier und Jetzt oder das eigene Erleben als Teil eines größeren Ganzen die psychologische Arbeit?

Susanne: Ein spiritueller Weg kann uns helfen, uns mit unserer Tiefe zu verbinden und in uns selbst Halt zu finden. Das gibt uns eine ganz andere Freiheit und Unabhängigkeit gegenüber den Stürmen des Lebens. Und es unterstützt uns darin, der schöpferischen Bewegung des Lebens offen, annehmend und voller Vertrauen zu begegnen. Das spiegelt sich auch in der psychologischen Begleitung wider. Wir haben einen Raum, in dem wir so sein können, wie wir sind. Wir müssen nicht ankämpfen gegen das, was ist. Das geschieht im tiefen Wissen und Vertrauen darauf, dass genau da, gerade jetzt, alles vorhanden ist – auch mitten im Schmerz.

Michaela: Und es hilft uns, die vorhandenen Potenziale zu nutzen. Ich muss nicht stecken bleiben. Vielmehr kann durch diese Tiefe und dieses Lassen auch wieder eine Bewegung entstehen.

„Es werden Anteile in mein Leben integriert, die es bislang noch nicht waren.“

Ein Begriff ist eng mit dem spirituellen Weg verbunden: das Überwinden menschlicher Leiden, sprich Heilung. Was versteht ihr als Begleiterinnen mit spiritueller Praxis unter dem Phänomen Heilung?

Michaela: Heilung verbinde ich nicht nur mit Gesundheit oder Krankheit, sondern mit einem „Heiler werden“, das heißt für mich auch „Ganzer werden“. Es werden Anteile in mein Leben integriert, die es bislang noch nicht waren. Das mache ich, indem ich Kompetenzen ausbilde, wachse, indem ich aufräume, die Schattenthemen anschaue und indem ich mich einer spirituellen Praxis widme.

Susanne: Für mich ist das Thema Heilung sehr stark mit der Erkenntnis verknüpft, dass etwas in uns immer heil und letztendlich auch immer unberührt ist von den Dingen, die uns passieren. Unseren Wert kann niemand schmälern, unsere Würde kann uns niemand nehmen. Wir sind immer diese unglaubliche Lebendigkeit, diese Fülle. Wir sind zutiefst Leben. Das zu erkennen hilft uns, authentisch zu sein und uns unseren als nicht heil empfundenen Aspekten, unseren Schattenseiten zuzuwenden. Dieses wertfreie Sich-Selbst-Annehmen schafft Raum, in dem diese noch nicht integrierten Anteile angenommen werden können. Oft fehlt uns der Zugang zu unserem heilen Selbst, deshalb ist dieser spirituelle Weg so wichtig.

Michaela: Die Spiritualität ermöglicht uns Zugang zu unserem Fundament, den heilen Kern in uns, den Susanne anspricht. Heiler-Werden heißt für mich, in der Integration genau das zu tun: sich mit dieser liebevollen Zuwendung den Dingen öffnen, die ich bislang noch nicht sehe. Eigentlich sind es zwei Ebenen: Einmal das Menschenbild und die Haltung dem Leben gegenüber, und das andere ist das Tun als Therapeut. Wenn wir uns verbunden fühlen mit diesem Freiheitsaspekt in der Tiefe, gibt es uns die Möglichkeit, in dieser Haltung bestimmte Themen überhaupt erst anzuschauen.

Susanne: Das was uns als Therapeuten mit unserem spirituellen Hintergrund ausmacht: Sind wir in der therapeutischen Arbeit in Berührung mit dem heilen Raum in uns, wirkt es heilend auf jene Aspekte in uns, die uns leiden lassen. Diesen Prozess unterstützen wir durch eine wache, mitfühlende Präsenz und Begleitung.

Zendo

Kann sich jeder Gast am Hof an euch wenden?

Susanne: Jeder ist herzlich willkommen, ob Kursteilnehmer oder Lang- oder Kurzzeitgäste. Jeder, der gerne eines der Themen, die er mit sich herumträgt, genauer anschauen möchte.

Michaela: Wir sehen uns als Unterstützung in der spirituellen Praxis, wenn psychologische Probleme auftauchen. Die psychologische Begleitung ist jedoch kein Ersatz für eine spirituelle Begleitung oder eine langfristige Psychotherapie oder einen Klinikaufenthalt.

Was sind die Schwerpunkte, beziehungsweise die Anliegen in der psychologischen Begleitung? Und wie wird die Begleitung in die eigene spirituelle Praxis integriert?

Susanne: Die Anliegen der Gäste sind sehr unterschiedlich: Manche Kursteilnehmer kommen beispielsweise aufgrund körperlicher Schmerzen. Oft ist die Sitzhaltung gerade am Anfang ungewohnt. Neben der Behandlung kann ich eventuell auch unterstützen, den Sitz zu verbessern. Oft treten körperliche Verspannungen in Verbindung mit Lebensthemen auf, die die Menschen mitbringen und auf die dann näher eingegangen werden kann. Und dann gibt es ja auch Kursteilnehmer, die in der Stille auf für sie wichtige, meist schmerzhafte Themen stoßen und Unterstützung und Begleitung suchen. Diese Begleitung wirkt sich vertiefend auf die spirituelle Praxis aus.

Michaela: Wir begleiten die Kursteilnehmer und Gäste bei den Übergängen, aus der Dichte des Alltags in die Ruhe und Stille und umgekehrt aus dem Kurs zurück in den Alltag, ins soziale und familiäre Netzwerk und ins Berufsleben. Dabei unterstützt ein ausführliches Gespräch, um sich zu sammeln, zu sortieren, im Vorfeld den Fokus auf die Stille zu finden oder im Nachgang das Erfahrene einzuordnen und im Alltag zu verankern. Bei Bedarf können auch andere Behandlungsformen, zum Beispiel Prozess- und Aufstellungsarbeit, Imaginationen oder die körperorientierte Behandlung, einbezogen werden. Während der Kurse begleiten wir die Menschen, wenn akute Krisen auftauchen oder bestimmte Themen näher betrachtet werden wollen, um die Meditationspraxis fortsetzen zu können.

Ihr bietet auch eine begleitete Auszeit an, bei der die Gäste ohne Kurs an den Hof kommen und Praxis und Begleitung kombinieren…

Michaela: Die zwei- bis viertägigen Auszeiten erfreuen sich großer Beliebtheit. Die Gäste kommen zum Beispiel von Donnerstag bis Sonntag an den Hof und können sich einem oder mehreren Themen intensiv widmen. Die Begleitung findet vormittags und nachmittags statt, wobei die jeweilige Form individuell auf die Bedürfnisse der Person zugeschnitten wird. Der weitere Rahmen wird durch die Struktur am Hof gegeben beziehungsweise die Möglichkeit, mit den Lang- und Kurzzeitgästen mit zu sitzen und zu meditieren.

Ganz praktisch gefragt: Wie können die Gäste euch kontaktieren? Gerade, wenn akut Unterstützung nötig ist?

Michaela: Tauchen während des Kurses dringende Themen auf, versuchen wir kurzfristige Termine zu ermöglichen, eventuell auch über Zoom oder Telefon. Kurzfristig ist es natürlich eine Frage der Verfügbarkeit. In solchen Fällen empfehlen wir, sich an den Empfang zu wenden. Die Kolleginnen und Kollegen im Kursbüro können unsere Terminkalender einsehen. Die Gäste sowie Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer können sich auch im Vorfeld eines Aufenthaltes am Hof mit uns in Verbindung setzen. Mit diesem Vorlauf können wir die psychologische Begleitung passend planen.

Susanne: Die Gäste können über E-Mail und Telefon auch mit uns direkt in Kontakt treten. Die Daten sind sowohl im Kursbüro als auch auf der Website hinterlegt.

Beratung Michaela Nüssel

Von 15. bis 17. September findet am Benediktushof das Symposium Psychotherapie statt, das sich in diesem Jahr dem Thema „Spirituelle Krise oder Krankheit“ widmet. Michaela, magst Du die Themen skizzieren, die in den Vorträgen und Workshops zur Sprache kommen werden?

Michaela: Wir schlagen einen Bogen von der Einordnung spiritueller Krisen in Psychotherapie und Spiritualität über die unterschiedlichen Facetten von spirituellen Krisen hin zur Betrachtung der Frage „Was ist gesund, was ist eventuell nicht mehr gesund?“. Ein spannendes Thema wird auch sein, spirituelle Krisen vor dem Hintergrund  Bewusstseinsmodelle, beispielsweise einem integralen, zu betrachten. Und wir schlagen die Brücke zur spirituellen Praxis, indem wir die Frage beleuchten, welche Herausforderungen die Stille im Retreat-Kontext an uns stellt, wie man hier mit spirituellen Krisen umgeht und welche Rolle die spirituellen Lehrerinnen und Lehrer dabei spielen. Also ein großer, spannender Bogen von Grundlageneinordnung, über die Beschreibung des Phänomens bis hin zu der Frage: „Wie gehen wir in der Praxis damit um?“.


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