Mal wieder gute Wünsche. Wirklich?

von Alexander Poraj, Zen-Meister und Mitglied des Leitungsteams am Benediktushof

Die letzte Dezemberwoche ist traditionell gefüllt mit einer ganzen Reihe von guten Wünschen. Während sich die Weihnachtswünsche auf die Feiertage und deren friedvolles und fröhliches Erleben im Familien- bzw. Freundeskreis zentrieren, werden die Neujahrswünsche viel umfangreicher. Wir übertreffen uns nahezu mit guten und besten Wünschen und scheinen sogar genau zu wissen, was und wie es kommen sollte. Dagegen ist ja nichts einzuwenden. Oder doch?

„Wenn du einen Menschen glücklich machen willst, dann füge nichts seinem Reichtum hinzu, sondern nimm ihm einige von seinen Wünschen.“

(Epikur)

Ich möchte unsere Aufmerksamkeit mal nicht auf die Inhalte der Wünsche lenken, sondern auf unsere Haltung, denn diese hat es in sich. Wenn ich also jemandem alles Gute wünsche, dann merken wir es selbst und unser Gegenüber umso mehr, was wir ihm wirklich wünschen. Und dieses „merken“ hängt nicht so sehr vom Inhalt des Gesagten ab, sondern eben von der Haltung, in welcher ich diesen Wunsch ausspreche. Konkret: Wenn ich dir alles Gute wünsche, dann verkörpert sich der Wunsch eben nicht eines Tages, wenn das, was Du Dir vorstellst in Erfüllung geht, sondern bereits jetzt, indem ich selbst zur Verkörperung des Guten werde, das ich auch Dir wünsche. Das ist nicht nur leicht gesagt, sondern auch wirklich leicht getan, weswegen es zu häufig übersehen wird.

Der Wünschende sollte im Augenblick des Wunsches das „Gute“ verkörpern.
Geht das wirklich ohne Anstrengung? Und wer könnte sich anmaßen wirklich gut, ja perfekt zu sein? Aus meiner Sicht kann der erste Einwand mit einem „ja“ und der Zweite mit dem Wort „jeder“ beantwortet werden.

In der kontemplativen Haltung nämlich, geschieht zunächst nichts anderes, als das EIN-verstanden sein mit dem, was ist. Diese Haltung besteht ja darin, dass wir, selbst für kurze Zeit, endlich mal das Verkörpern, was sich gerade ereignet. Und weil wir eben nicht vom Leben getrennt sind, können wir durchaus sagen, dass sich das Leben selbst von Augenblick zu Augenblick ereignet, mithin verkörpert. So gesehen ist das Leben immer das, was und wie es sich ereignet und zwar auch dann, wenn es unseren Vorstellungen mal wieder nicht entspricht.

Sich diese Einsicht einzugestehen fällt uns immens schwer, denn wir kreieren beständig Erwartungshaltungen an das Leben, meinend, sie sollten doch endlich erfüllt werden. Dabei treten wir immer weniger als Bittsteller auf – sondern zusehends als Fordernde, als Ankläger oder glauben sogar, alles selbst in die Hand nehmen zu müssen, damit es endlich mal so wird, wie wir es für gut und richtig halten, ganz nach dem gängigen Spruch: ein jeder ist seines Glückes Schmied.

Die Bezeichnung „gut“ kommt aber dem Leben unmittelbar zu und bitte nicht verwechseln mit „angenehm“, „passend“ oder ähnlichen netten Adjektiven. Es steht uns nicht zu, über das Leben zu urteilen, weil wir seine unendliche Komplexität wohl niemals werden verstehen können. Und das, was wir glauben zu verstehen, entpuppt sich immer wieder als völlig unzureichend angesichts seiner Größe und Fülle.

Also nochmals: Wie stehst du da, wenn du jemandem Gutes wünschst? Wünschst du lediglich die Erfüllung von Vorstellungen über das Leben, dass es maßgeschneidert sei und Rücksicht nehme auf alle „Wenn“ und „Aber“ deines Gegenübers – von deinen eigenen ganz zu schweigen? Oder aber kannst du selbst, im Augenblick des Wünschens, die offene Präsenz als bereits jetzt gelebtes lebenswertes Leben verkörpern?

Seien wir doch nicht so wählerisch, denn das Leben kennt keine Wiederholungen und jede nicht erlebte Situation, vor allem wenn sie durch leichtsinniges Verdrängen oder Vermeiden von unserem Erleben abgespalten worden ist, kommt verkleidet zurück, wie die ausgeladene „böse“ Fee aus dem Dornröschen-Märchen und piekst uns oder die anderen in dem für uns alle unpassendsten Moment.

Üben wir uns darin, das Leben zu verkörpern, wissend, dass „mehr“ vom Leben immer schon mehr des ganzen Lebens bedeutet. Mehr lachen können beinhaltet sofort die Bereitschaft, dass wir auch unter anderen Umständen mehr weinen werden und umgekehrt. Freude und Trauer gehören ebenfalls zusammen wie alle scheinbaren Gegensätze auch.
Auf den Punkt gebracht: Das gute Leben ist immer schon und immer nur das ganze Leben und dieses findet bereits jetzt statt.

Zum spirituellen Impulsbeitrag gibt es ein neues Format, in dessen Rahmen die Aufzeichnung des Vortrags entstanden ist. Interessierte Leser*innen und Kursteilnehmer*innen des Benediktushof haben sich zusammen gefunden, um über gemeinsam mit dem Autor/der Autorin über den Impuls zu reflektieren, denn der gemeinsame Austausch kann eine sinnvolle und hilfreiche Ergänzung zur eigenen spirituellen Praxis sein. Daher bieten wir monatlich das neue Format an, mit Vortrag – Austausch in Kleingruppen – Fragen & Antworten im Plenum, kostenfrei, via Zoom.
Nächster Termin: Dienstag 22.02.2022 von 19:3020:30 Uhr mit Fernand Braun. Anmeldung über den Button unten (gleicher Link wie beim Online-Sitzen in Stille).

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Alexander Poraj

katholischer Dipl.-Theologe, Schwerpunkt Religionswissenschaften, Promotion zum Thema: „Der Begriff der Ich-Struktur in der Mystik Meister Eckeharts und im Zen-Buddhismus“. Er ist Zen-Meister der Linie "Leere Wolke" (Willigis Jäger) und von Willigis Jäger ernannter Kontemplationslehrer. Er war u. a. Geschäftsführer der Oberbergkliniken, Mitbegründer der Stiftungen West-Östliche Weisheit in Spanien und Polen sowie der Institute für persönliche Entwicklung "Euphonia" in Barcelona und Breslau. Er ist Mitglied der spirituellen Leitung des Benediktushofes, Mitglied des Präsidiums der West-Östliche Weisheit Willigis Jäger Stiftung und Geschäftsführer der Dr. Poraj & Partner GmbH in Zürich. www.alexanderporaj.de, www.drporaj.ch
 
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