Grundsätze einer gelebten Spiritualität

von Cornelius von Collande, Zenlehrer der Linie „Leere Wolke“ Willigis Jäger, Zen-Meister der „White Plum Asanga“ Bernie Glassman

Wir leben in einer schwierigen Zeit: Ökologische und Ökonomische Krise, Pandemie und jetzt auch noch Krieg in Europa, belasten uns alle und viele fragen sich, was sie tun können. In meiner psychotherapeutischen Praxis und auch in den Zen-Sesshins ist das die meist gestellte Frage.
Meine Antwort darauf ist dann kein „guter Rat“ sondern das gemeinsame Finden einer Haltung, von der aus das getan werden kann, was zu tun ist. Was ist das für eine Haltung? Wie kann ich sie konkret einüben?

Bernie Glassman, ein amerikanischer Zen-Meister, dessen Linie ich mich, neben der Zen-Linie von Willigis, verpflichtet fühle, hat dazu ein Instrument entwickelt: Die drei Grundsätze der Zen-Peacemakers. Sie wurden erstmals 1994 formuliert. Seitdem wurden sie von vielen Menschen studiert und praktiziert.

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Sie lauten:

Nichtwissen: Ich gebe feste Vorstellungen über mich, dich, die Welt und das Universum auf.

Zeugnis ablegen: Ich öffne mich vollständig der Freude und dem Leiden, die mir begegnen.

Handeln: Ich werde aktiv aus der Haltung des Nichtwissens und Zeugnisablegens.

„Ein spiritueller Weg, der nicht in den Alltag führt, ist ein Irrweg“

                 (Willigis Jäger)

 

Nichtwissen bedeutet so etwas wie Anfänger-Geist. Was ist das für ein Gefühl, wenn ich etwas zum allerersten Mal erlebe – und was ist die Geisteshaltung, wenn ich etwas schon zigmal erlebt habe. Ein schönes Beispiel ist die so genannte Rosinen-Übung beim Achtsamkeitstraining: Ich bitte die Teilnehmer*innen die Augen zu schließen und die Hand zu öffnen, in die ich dann „einen kleinen Gegenstand“ gebe. Den erforschen dann die Teilnehmer*innen mit alle Sinnen und großer Neugier. In dem Moment wo die Erste sagt „das ist eine Rosine“ lässt das Interesse schlagartig nach. Warum? Wir glauben jetzt alles zu wissen, weil wir das Konzept „Rosine“ in unserem Kopf haben – und fatalerweise das Konzept mit der Wirklichkeit verwechseln. In Wirklichkeit haben wir nämlich einen einzigartigen Gegenstand in der Hand, den wir noch nie gesehen, ertastet, geschmeckt und gerochen haben! Konzepte sind hilfreiche Errungenschaften der Evolution um schneller und Zielorientierter handeln zu können. Es bleiben aber Konzepte und nicht die einmalige, frische und immer wieder neu zu erlebende, lebendige Wirklichkeit. Nichtwissen ist also die Haltung, die es uns ermöglicht das lebendige Leben in seiner Einmaligkeit und Frische jetzt – hinter den Konzepten – zu erleben.

Zeugnis ablegen: Einfach Zeuge zu sein ändert alles. Es ist die Kraft das zu benennen was ist, dem was ist eine Stimme zu geben und dabei eine Haltung des offenen, empathischen Bewusstseins zu praktizieren, ohne dass etwas anders sein müsste. Mutig teilhabend, ohne vor dem Bezeugen zurückzuschrecken. Selbst angesichts physischer Gewalt oder sozialer Zwänge und auch angesichts der eigenen Ängste. Diese Haltung üben wir zum Beispiel im alljährlichen „Bearing Witness Retreat“ der Zen Peacemakers in Auschwitz: Fünf Tage meditieren auf der Selektionsrampe in Birkenau. Ich hatte meine Vorstellungen über einen Ort des Schreckens, aber was ich fand war ein heiliger Ort.

Sprechen

Ein Ort an dem Trauer und Freude, Verzweiflung und Hoffnung, Hass und Liebe, Weinen und Lachen auf unfassbare Weise miteinander verwoben sind. Ein Ort der ständig deine Vorstellungen in Frage stellt, ein Ort der dich nicht auslässt, der dich nicht zur Tagesordnung übergehen lässt.

Aber auch in weniger dramatischen Situationen können wir jede Herausforderung als Übung des Bezeugens nutzen. Der Zeuge sieht alles, hat aber eine Distanz zum Geschehen, ist selber nicht verwickelt. So haben wir Raum zu lernen mit dem Problem (um-)zu gehen.

Handeln aus dieser Haltung heraus bedeutet, dass wir die Trennung zwischen uns und dem „Problem“ überwinden, dass wir selber zu der Situation werden. Wir handeln aus der unmittelbaren Situation heraus. Wir handeln spontan und wir handeln in offener Verbundenheit. So ergibt sich die bestmögliche Handlung von selbst. Vielleicht hätte ich anders gehandelt oder du wirst morgen anders handeln. Aber jetzt ist dein Handeln, das auch Nicht-Handeln umfasst, perfekt. Wir müssen uns keine Sorge darüber machen, was zu tun ist. Es ist so einfach wie jemand die Hand zu reichen, der stolpert. Wir machen kein „Ding“ aus unserem Handeln und leben so den großen Frieden, der wir im tiefsten sind.

Hände auf Herz

Die drei Grundsätze sind also ein „Prozess-Modell“, das sowohl im Großen, als auch im Kleinen praktiziert werden kann. Es hilft von einer starren Zielorientierung, von einem „was soll ich tun“, zu einer dynamischen Prozessorientierung, einem mit der Situation verbundenem, empathischen Handeln zu gelangen. Wichtig zu erwähnen ist, dass es dabei nicht um ein starres „zuerst Haltung – dann Handlung“ geht. Denn Handeln ist Haltung und Haltung ist Handlung. So ist das ist für mich wichtigste Prinzip des Zen:
Eine Spiritualität, die sich nicht im Alltag verkörpert, ist ein Irrweg.

Autorengespräch

Der Austausch und die Reflexion zu spirituellen Themen ist eine hilfreiche Ergänzung zur eigenen Praxis. Das Autorengespräch mit Cornelius von Collande findet am Di., 26.07. um 19:30 Uhr statt – online & kostenfrei via Zoom.

Cornelius von Collande ist Gestalttherapeut (DVG), EU-Zertifikat für Psychotherapie (EAP), Lehrer für „Stressbewältigung durch Achtsamkeit“ (MBSR), Zenlehrer der Linie „Leere Wolke“ (Willigis Jäger), Zen-Meister der „White Plum Asanga“ (Bernie Glassman). Psychotherapie, Beratung und Seminare in eigener Praxis. www.collande.eu


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