Frühlings Erwachen
von Marianne Leverenz, Lehrerin der Zen-Linie „Leere Wolke“
Es ist wieder soweit. An vielen Stellen in den Gärten und auf den Wiesen sprießen die Frühlingsblumen. Die Knospen der Sträucher und Bäume springen auf und all dies verändert die graue Welt des Winters mit leuchtenden Farben. Die Seele erfreut sich an diesem vertrauten und verlässlich wiederkehrenden Schauspiel der Natur.
Und während wir bei vertrauten Wiederholungen von Dingen und Prozessen, die in unseren Augen immer gleich wiederkehren, oft nicht mehr genau hinschauen oder hinhören, erreicht dieses Aufbrechen unser Auge und unsere Seele.
Bei unseren täglichen Gängen entlang diesen Stellen und Orten schauen wir neugierig, was neu dazugekommen ist, was sich neu zeigt. Vielleicht entdecken wir, was sich verändert oder den Frost nicht überlebt hat und nun nicht mehr wächst. In diesen kleinen Momenten entscheidet unsere Wahrnehmung darüber, wie sie dem Erwartbaren und vermeintlich Vertrautem begegnet. Meint sie immer schon zu wissen, was kommt und gleich geschieht, oder ist sie ganz offen für das, was sich in diesem Augenblick ereignet? Wofür entscheidet sich unsere Wahrnehmung? Sieht sie das Erwartete? Etwa: An dieser Stelle kommen jedes Jahr die Krokusse oder Osterglocken, denn schließlich sind da immer welche gepflanzt. Oder sind die Augen offen und wach und sehen neu? Welch ein Krokus, welche Farbe, welch ein Leuchten!
In diesen kleinen Augen-Blicken spiegelt sich wider, wie wir dem Leben mit seinen Wiederholungen begegnen können: Erleben wir es als Trott, als bekannte, manchmal langweilig gewordene Wiederholung oder können wir jedem Augenblick ganz wach begegnen, als etwas Neues, Einzigartiges und auch Unerwartetes?
Bei unseren Frühlingsspaziergängen und Beobachtungen in dieser Zeit fällt uns diese wache Offenheit vielleicht leichter, aber wie geht es uns mit unseren Routinen im Beruf oder im Privaten, in unseren Beziehungen? Wie geht es uns mit all den Wiederholungen, die unsere Tage kennzeichnen und die wir so gut zu kennen meinen, dass wir manchmal gar nicht mehr bei der Sache sind, sondern in Gedanken woanders herumwandern und zu träumen beginnen.
Wie geht es uns mit dem Alltag unserer Beziehungen? Wie oft verlieren sich gerade Paare aus den Augen, weil sie verlernt haben, sich in jedem Augenblick neu zu begegnen und zu entdecken. Wie oft sehen wir in der Begegnung mit Kindern, Eltern oder Kolleg*innen sich scheinbar wiederholende Verhaltensmuster und tun uns schwer, jeden Moment mit ihnen als einen neuen zu erleben.
„Der Frühling hat angefangen!
Juwelen und kostbares Gold überall!“
(Ryokan)
Sind wir wach, entlarvt unsere Wachheit die vermeintlichen Wiederholungen, das scheinbar immer gleiche Wiederkehren als Illusion, als Konstruktion unseres Denkens, das uns oft in seinen Bildern und Vorstellungen gefangen nimmt. Denn das Leben zeigt sich in jedem Augenblick neu. Im wachen Schauen ist jeder Krokus einzigartig.
So ist jeder Frühling, jeder Frühlingstag einzigartig – keiner gleicht dem anderen.
Im wachen Schauen ist jede Begegnung mit einem Menschen in diesem Moment einzigartig.
Das Erwachen der Natur im Frühling mit all seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen ist eine Erinnerung an unsere vertraute und doch immer neue Übung, ganz wach im Augenblick zu sein: In ihm zeigt sich das Leben und in ihm vollzieht es sich in all seinen Formen und Farben.
Autorinnengespräch
Das Autorinnengespräch mit Marianne Leverenz findet am Di., 21.03. um 19:30 Uhr statt – online & kostenfrei via Zoom.
Marianne Leverenz ist evangelische Theologin, Paar-, Lebens-, Familien- und Erziehungsberaterin (DAJEB), Zenlehrerin der Linie „Leere Wolke“ (Willigis Jäger).