Spiritualität ganz alltäglich:
Mit meiner Schwiegermutter essen gehen
von Maria Kolek Braun, Mitglied der spirituellen Leitung
Spare, lerne, leiste was, dann hast du, kannst du, bist du was. Diesen Spruch lernte ich am Weltspartag in der 3. Klasse. Schon damals als Kind hat er mich irritiert, auch wenn ich nicht genau sagen konnte, warum. Ich kann mir vorstellen, dass viele von Ihnen ähnlich empfinden. Und trotzdem spüre ich, wie dieser Spruch mein Denken bestimmt, wenn ich mich mit meiner an Demenz erkrankten Schwiegermutter in die Öffentlichkeit begebe, in ein Café, ins Restaurant. Von ihrer selbstbewussten Persönlichkeit als erfolgreiche Gymnasiallehrerin, die auch noch zehn Jahre nach ihrer Pensionierung jungen Menschen durch gratis Nachhilfeunterricht zu guten Schulabschlüssen verholfen hat, ist nichts mehr zu erkennen. Natürlich ist sie immer noch das, was sie vor ihrer Erkrankung war mit ihrer Leistung, ihrer gesellschaftlichen Anerkennung und ihrem Erfolg.
Aber wer ist sie jetzt? Was macht sie aus? Und wer bin ich? Sie stellt mich immer wieder genau vor diese Fragen. Stelle ich mich dem Schmerz, ihre Vergänglichkeit hautnah über einen langen Zeitraum mitzuerleben? Lasse ich den Schmerz des langen Abschieds zu? Lasse ich mich wirklich ein auf diese Wirklichkeit, die meinen Konzepten zuwiderläuft? Und lasse ich zu, dass mir im scheinbar Zerbrochenen Heil-Sein und Lebendigkeit begegnet?
Theoretisch bin ich überzeugt, dass unser tiefstes Inneres, unsere Seele ganz und heil ist; dass wir (göttliches) Leben sind, das nicht untergeht. Mein Menschenbild gründet in dieser Überzeugung, dass jedes Leben so wie es ist, wertvoll ist, unabhängig und jenseits jeglicher Leistung. Dieser Wert und diese Würde sind unantastbar und nicht zu löschen – auch nicht durch die Demenz. Die Demenz verändert die Denkfähigkeit, die Selbstbestimmungsfähigkeit, den Willen, das Selbst-Bewusstsein, den Verstand.
Wer bin ich, wenn diese menschlichen Fähigkeiten verloren gehen? Meine Schwiegermutter fordert mich heraus, meine Überzeugungen wirklich zu leben. Mich mit ihr in ein Restaurant zu setzen, und den anderen Gästen zuzumuten, dass sie nicht mehr den gängigen gesellschaftlichen Normen entspricht. Und sie fordert von mir, dass ich meine eigenen Denkmuster und Verhaltensweisen relativiere: es zählt radikal nur das, was genau jetzt in diesem Moment passiert.
Wenn ich mich ihr offen und spürend zuwende, kann ich im scheinbar verwirrten und unangemessenen Zerreissen ihrer Serviette, die sie mit mir teilen möchte, ihre Freigiebigkeit, Grosszügigkeit und Hilfsbereitschaft spüren, dann ist ihr Wesen lebendig jenseits ihres nur noch eingeschränkt funktionierenden Verstandes. Sie sucht die Gemeinschaft und Verbundenheit – nehme ich sie auch wahr und antworte ich darauf? Anfangs fiel es mir schwer, mich mit ihr in der Öffentlichkeit zu zeigen, aber je mehr ich auf sie eingehen kann, statt mich für sie zu schämen, desto leichter ist es auch für andere, ihr von der Norm abweichendes Verhalten zu akzeptieren. Spare, lerne, leiste was, dann hast du, kannst du, bist du was: diese Normen sind nur die Oberfläche unserer Orientierung in der Welt. An Demenz erkrankte Menschen führen uns radikal zu der Frage, ob wir uns an dieser Oberfläche orientieren wollen oder fragen, wer wir zutiefst sind: unzerstörbares Leben, das sich in diesem Augenblick genau so zeigt. Und ob wir bereit sind, uns darauf einzulassen – mit einer kontemplativen Haltung: mit Nicht-Wissen und Nicht-Bewerten, es einfach so sein zu lassen wie es ist.
An Demenz erkrankte Menschen führen uns in genau diesen Augenblick, wenn wir uns wirklich auf sie einlassen – das tut uns gut!
„Wende deinen Blick nicht ab. Schau weiter auf die verbundene Stelle. Dort kommt das Licht in dich hinein.„
(Saki Santorelli)
Autorengespräch
Der Austausch und die Reflexion zu spirituellen Themen ist eine hilfreiche Ergänzung zur eigenen Praxis. Das Autorengespräch mit Maria Kolek Braun findet am 19.04. um 19:30 Uhr statt – online & kostenfrei via Zoom.
Maria Kolek Braun ist ist Mitglied der spirituellen Leitung am Benediktushof. Sie ist Kontemplationslehrerin der Linie „Wolke des Nichtwissens“ (Willigis Jäger) und außerdem Vorstandsmitglied im Würzburger Forum der Kontemplation sowie MBSR-Lehrerin.