Die Wahrheit?

von Alexander Poraj, Zen-Meister und Mitglied des Leitungsteams am Benediktushof

Auch wenn es uns häufig nicht bewusst ist, so beziehen sich unsere wichtigsten Handlungen sowie Aussagen auf das Vorhandensein von Wahrheit. Die Annahme, dass eine Wahrheit an sich existiert, ist für uns Menschen derart selbstverständlich, dass sie kaum mehr direkt benannt wird. Der Vorteil dieser Selbstverständlichkeit von Wahrheit liegt schlichtweg darin, dass es sie gibt, weil es sie geben muss… Sonst? Eben, sonst bricht die Art und Weise, wie wir uns und die Welt zu verstehen glauben, zusammen.

Nichts ist leichter als Selbstbetrug, denn was ein Mensch wahr haben möchte, hält er auch für wahr.

(Demosthenes)

Eine kleine Kostprobe: Wenn wir meinen, wir hätten eine wahre Geschichte erzählt, dann bewirkt diese Aussage nur deswegen ein gutes Gefühl in uns oder den Zuhörern, weil wir nicht gelogen haben. Doch nur auf den ersten Blick erscheint hier die Wahrheit als das Gegenteil der Lüge, denn die Existenz von beiden – der Wahrheit und der Lüge – bezeichnen wir ebenfalls als wahr.

Selbst dann, wenn wir uns dieser Unterscheidung nicht ganz sicher sind, so bezeichnen wir die Unsicherheit darüber erneut als wahr.

Und jetzt kommt ein wichtiger Schritt: Aus dem Adjektiv „wahr“ machen wir häufig und unbemerkt einen Sprung und bilden das Substantiv „die Wahrheit“ und gehen davon aus, dass es die Wahrheit an sich geben muss, und zwar alleine deswegen, weil wir sie eben als ein Substantiv bilden, sagen und damit auch irgendwie denken können. Bei diesem Vorgang gehen wir stets davon aus – natürlich ebenfalls unbewusst – , dass unsere Sprache die bereits objektiv existierende Wirklichkeit wiedergibt.

Nun aber sind wir dabei, mit immer größerem Erstaunen zu erkennen, dass unsere Sprache die Wirklichkeit nicht wiedergibt, sondern die Wirklichkeit mitkreiert. Da „Draußen“ vor uns oder um uns herum, wie wir zu sagen pflegen, gibt es weder Farben, Töne oder Dinge an sich. Alles, unser allerliebstes Ich miteingeschlossen, wird von Augenblick zu Augenblick neu kreiert, und zwar auch von unserem komplexen Nervensystem, welches wiederum zu keinem Augenblick als statisch, „fertig“ oder abgeschlossen bezeichnet werden kann. Anders ausgedrückt: Gemeinsam mit allem, was uns als Jemand oder Etwas erscheint, sind wir immer schon und immer nur das augenblickliche Wunder unbeschreibbar komplexer Wechselwirkungen, von denen keine zu keinem Zeitpunkt unabhängig, an sich oder als selbständige Substanz in Erscheinung tritt. Deswegen ist die bislang selbstverständliche Verwendung von Substantiven vermutlich nicht korrekt, weil sie den Erscheinungen eben eine „Substanz“ zuschreibt, wo eine solche gar nicht da ist.

Spätestens an diesem Punkt kommen wir den Einsichten des historischen Buddha, dem Zen oder gewissen Aussagen des Meister Eckehart oder Johannes Tauler näher, indem ein wichtiger Aspekt des „Erwachens“ gerade darin gesehen und realisiert wird, dass man von falschen Annahmen einer an sich existierenden Substanz, Wesenheit oder Wahrheit und damit auch eines „Ichs an sich und für sich“ absieht und eben dadurch erwacht.
Dieser Aspekt des „Erwachens“ ist wiederum keine logische Konsequenz eines wie auch immer gearteten Denkens noch ein Gefühl, das eine Wahrnehmung begleitet, sondern der sprachliche Versuch, ein plötzlich erlebtes „Durchschauen“ auch und vor allem der eigenen bedingten Erscheinung in Worte zu fassen.

Dieses „Erwachen“ kann und darf sich wiederum nicht als „die Wahrheit“ bezeichnen, denn das so verstandene „Erwachen“ benennt geradezu die erlebte Unmöglichkeit, jegliche Fest-Stellung machen zu können und machen zu müssen. Vermutlich ist gerade das Erwachen der kurze und erfrischende Moment, der später im Bewusstwerdungsprozess den Beginn einer erdbebenartigen Deutung zulässt, wonach nichts von dem, was wir gefühlt oder gedacht als jemand, etwas, wahr, falsch, gut, schlecht, richtig oder böse bezeichnen und zu erleben glauben, auch nur annäherungsweise so fest-gelegt oder fest-gestellt werden kann. Mehr noch: Der so verstandene Aspekt des Erwachens ist wie der Blick durchs Schlüsselloch der unserer Verkörperung gegebenen Möglichkeiten. Vermutlich nicht weniger, aber mit großer Wahr-Scheinlichkeit auch nicht mehr.

Und was machen wir mit den so mühsam behaupteten Gesetzen, Regeln, Wahrheiten und Werten? Wir müssen sie weder als fest-gesetzt betrachten, noch als unnötig wegtun. Sie tun not, damit sich unser äußerst fragiles kleine Sosein etwas stabilisiert und in der Vorstellung von Dauer und Substanz eine kleine Verschnaufpause findet. Und Letztere brauchen wir – Erwachen hin, Erwachen her – weitaus häufiger, als wir es uns und den anderen eingestehen wollen.

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Damit ist auch der Raum fürs Nachdenken eröffnet, den unser Weisheitsjournal anbieten möchte. Denn Weisheit kann hier als die Haltung gedeutet werden, welche seit Menschheitsgedenken erahnt, dass „die Wahrheit“ niemals gehabt werden kann. Das Geheimnis des Lebens ist einfach zu groß und nichts deutet darauf hin, dass wir es werden lüften können. Genau damit und genau darin müssen wir uns arrangieren…

Es grüßt Euch herzlich
Alexander Poraj

Zum spirituellen Impulsbeitrag bieten wir das Autorengespräch an. Interessierte Leser*innen und Kursteilnehmer*innen des Benediktushof finden sich online zusammen, um mit dem Autor/der Autorin über den Impuls zu reflektieren und Fragen zu stellen, denn der gemeinsame Austausch kann eine sinnvolle und hilfreiche Ergänzung zur eigenen spirituellen Praxis sein. Daher bieten wir monatlich dieses Format an, mit Vortrag (wird aufgezeichnet) – Austausch in Kleingruppen – Fragen & Antworten im Plenum, kostenfrei, via Zoom.
Nächster Termin: Dienstag 21.02.2023 von 19:3020:30 Uhr mit Harald Homberger. Anmeldung über den Button unten (gleicher Link wie beim Online-Sitzen in Stille).

Alexander Poraj

katholischer Dipl.-Theologe, Schwerpunkt Religionswissenschaften, Promotion zum Thema: „Der Begriff der Ich-Struktur in der Mystik Meister Eckeharts und im Zen-Buddhismus“. Er ist Zen-Meister der Linie "Leere Wolke" (Willigis Jäger) und von Willigis Jäger ernannter Kontemplationslehrer. Er war u. a. Geschäftsführer der Oberbergkliniken, Mitbegründer der Stiftungen West-Östliche Weisheit in Spanien und Polen sowie der Institute für persönliche Entwicklung "Euphonia" in Barcelona und Breslau. Er ist Mitglied der spirituellen Leitung des Benediktushofes, Mitglied des Präsidiums der West-Östliche Weisheit Willigis Jäger Stiftung und Geschäftsführer der Dr. Poraj & Partner GmbH in Zürich. www.alexanderporaj.de, www.drporaj.ch
 
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