Das Leben – unser Lehrmeister
von Cornelius von Collande, Zen-Lehrer der Linie „Leere Wolke“ Willigis Jäger, Zen-Meister der „White Plum Asanga“ Bernie Glassman
In den Camps mit den Studierenden kommt immer wieder die Frage auf: „Wie soll ich mein Leben planen, einen Job suchen, etc., wenn immer alles nur Hier und Jetzt und Gegenwärtigkeit ist? Ich kann doch nicht alles nur auf mich zukommen lassen.“ Das ist eine sehr berechtigte Frage, und ich würde sogar sagen, dass es eine der zentralen Fragen im Zen ist. Es geht hier offensichtlich um das Thema „Absichtslosigkeit versus Zielorientierung“. So heißt es bei Zen-Meister Dogen, dem japanischen Begründer des Soto-Zen im 13. Jahrhundert: „Hock dich hin und überlass‘ dich einfach, ohne alle Künstlichkeit, mit Leib und Seele dem Wirken des Weges!“
Wie kann dieser Widerspruch gelöst und gelebt werden? Auf der einen Seite brauchen wir im Alltag Absichten und Ziele, sollen sie erfüllen und werden daran gemessen. Auf der anderen Seite sagt Zen-Meister Dogen, man solle sich einfach dem Wirken des Weges überlassen.
Meiner Ansicht nach handelt es sich hier um ZWEI Perspektiven auf die EINE Wirklichkeit: Die relative Alltagsperspektive und die absolute Perspektive des Soseins. Die Perspektive des Alltags-Wachbewusstseins ist uns allen geläufig: Es ist die dualistische, zielorientierte Perspektive des Schwarz-Weiß, Gut-Schlecht, Wenn-Dann, etc. Wir wurden evolutionär und kulturell in sie hereingeboren, und sie ist hocheffektiv, weil zielstrebig, Fakten schaffend und kontrollierend.
„Jeder Augenblick, Leben wie es ist – Der einzige Lehrmeister“
(Dogen)
Die absolute Perspektive ist die Erfahrung einer Welt, bevor sie benannt wurde und Bedeutung erhielt. Hier wird das ganze Leben als flüchtiger Prozess inmitten von flüchtigen Prozessen und ihrer gegenseitigen Bedingtheit erfahren. Indem ich das schreibe, liege ich schon daneben. Denn in meiner Beschreibung liegen schon wieder Wertung und Bedeutung. Wo kann es da, inmitten von Nichts, Absichten geben? Im Zen, so wie ich es verstehe, wird Wert auf beide Perspektiven gelegt. So wird es im Herz-Sutra auf folgende Formel gebracht: „Form ist nichts anderes als Leerheit, Leerheit ist nichts anderes als Form.“ Form ist hier synonym mit „Alltagsbewusstsein“ und Leerheit synonym mit „absolutem Bewusstsein“ zu verstehen.
Damit wird einerseits zum Ausdruck gebracht, dass es sich um zwei Perspektiven, also Sichtweisen, Erfahrungen der EINEN Welt handelt. Zum anderen wird durch die Formel „Form = Leere = Form“ darauf hingewiesen, dass es zwischen absolutem Bewusstsein und Alltagsbewusstsein keinen SUBSTANZIELLEN Unterschied gibt.
An dieser Stelle ist es sehr wichtig genau hinzuschauen, denn es macht in unserem „Alltag“ natürlich einen Unterschied, ob wir beispielsweise in der Ukraine oder in Deutschland leben. Und ob wir dann entscheiden, zu bleiben oder zu fliehen. Es wäre ein vollkommener Mangel an Empathie, wenn wir zu einem Ukrainer sagen würden, dass das keinen Unterschied macht und es nur Vorstellungen und Geschichten sind.
Auf der anderen Seite erfahren wir uns, sei es auch nur für Augenblicke, immer wieder als Teil eines Ganzen, als Welle im Ozean, als „Form = Leere“. In diesem deinem Alltags-Augenblick, hier und jetzt, manifestiert es sich immer wieder aufs Neue. Wie kann das gelebt werden?
Es geht hier also nicht um die Frage „Was tun“? Es geht darum, eine HALTUNG zu finden, aus der heraus das getan wird, was zu tun ist – ohne „ein Ding“ daraus zu machen. Eine Haltung des offenen Teil-habens, Teil-seins. Eine Haltung, in der ich mich in der Welt und die Welt in mir erkenne. Und genau diese Haltung ist es, der wir im Zazen Raum geben: „Hock dich hin und überlass dich einfach, ohne alle Künstlichkeit, mit Leib und Seele dem Wirken des Weges!“
Und dann tue „ohne alle Künstlichkeit“, was zu tun ist!
In diesem Sinne, Euer Cornelius