„Das Göttliche ist großzügig“
Ingo Taleb Rashid, Sheikh und Oberhaupt der Naqshbandi-Rashidiya Sufi-Tradition, im Gespräch über die Kraft des „Immovable Spirit“ und Dankbarkeit
Die Zukunft findet in einem einzigen Moment statt: Immer im Hier und Jetzt. Unter diesem Motto steht auch unser diesjähriges Sommer-Symposium „Zukunft als Illusion. Leben im Hier und Jetzt. “ von 16. bis 18. Juni 2023, bei dem wir uns gemeinsam mit unseren Gästen der Frage widmen, wie wir das Heute gestalten, um die für uns wichtigen Impulse für die Zukunft zu setzen. Im Heute das Morgen gestalten: Das gilt für die großen Fragen der Menschheit genauso wie für persönliche Biografien.
Ingo Taleb-Rashid, Sheikh und Oberhaupt der Naqshbandi-Rashidiya Sufi-Tradition, stand vor dieser Herausforderung mehrmals in seinem Leben. Als junger Mensch, als die Entscheidung für seinen (spirituellen) Lebensweg anstand, und ganz aktuell:
2021 erlitt Ingo Taleb Rashid eine Gehirnblutung und fühlt sich – wie er selbst sagt – in 1000 Stücke zerschlagen. Allen medizinischen Prognosen zum Trotz tastet er sich Schritt für Schritt ins Leben zurück und geht inzwischen auch seiner Berufung wieder nach: Menschen auf ihrem spirituellen Weg begleiten, seit vielen Jahren auch im Rahmen von Kursen am Benediktushof. In einem sehr persönlichen und berührenden Gespräch mit Barbara Simon erzählt er von seinem Weg und seiner Tradition, dem Naqshbandi-Rashidiya Sufismus, seinen Begegnungen mit Willigis und einer großen Dankbarkeit.
Ingo, nach deiner Gehirnblutung rechneten die Mediziner und deine Familie damit, dass du sterben wirst. Heute, zwei Jahre später, sitzen wir hier und sprechen über Zoom miteinander. Ein kleines Wunder…
ITR: Ich hatte eine starke Gehirnblutung mit Ventrikel-Einblutung, das heißt Teile des Gehirns wurden mit Blut überschwemmt. Für die Ärzte sah es tatsächlich so aus, dass ich sterben werde. Meine Familie leitete bereits alles in die Wege, rechnete mit meinem Begräbnis. Dann hieß es, dass ich höchstwahrscheinlich ein Liegend-Pflegefall bleiben, nie mehr den Rollstuhl verlassen werde. So, ich stehe einfach mal auf – zum Thema „Nie mehr den Rollstuhl verlassen“. (Er steht langsam auf und bewegt mit einem kleinen Lächeln Arme und Beine). Inzwischen war ich auch wieder am Benediktushof, habe einige Seminare gegeben, ein Tanztheater-Projekt inszeniert (Anm.: Ingo ist künstlerischer Leiter der El Haddawi Dance Company und Tanztheaterschule, www.elhaddawi.de). So gut es geht, arbeite ich wieder.
Eines der Seminare am Benediktushof, die du angesprochen hast, heißt „Tanz der Heilung – Fragmente und Ganzheit“, bei dem es auch um den Umgang mit Schicksalsschlägen geht. Möchtest du mit deiner Geschichte anderen Mut machen?
ITR: Der Kurs ist tatsächlich aus meiner Geschichte heraus entstanden. Aber ich versuche, das nicht zu meiner Hauptbeschäftigung zu machen. Man muss sehr vorsichtig sein mit pauschalen Schlussfolgerungen: So funktioniert die Welt nicht. Wir leben als Menschen in einem extrem komplexen Gefüge und Universum, wir sind eingebettet in diese Natur, auf diesem Planeten. Es gibt so viele Variablen, die wir nicht überschauen können.
Was ist dein Anliegen?
ITR: Es ist wichtig, dass wir wieder mit uns in Kontakt kommen, mit unserem eigenen Strom des Bewusstseins. Spirituelle Praxis und Meditation helfen uns, den inneren Persönlichkeitskern zu bewahren, sonst sind wir nur ein Produkt äußerer Gegebenheiten. Diese Fähigkeit der inneren Verankerung geht in unserer modernen Zeit immer mehr verloren.
„In meiner Tradition sprechen wir von einem ‚Immovable Spirit‘, gemeint ist damit ein in sich ruhender Geist. Meditation hilft, diesen Geist zu kultivieren.“
Du bist u.a. Sheikh, was einem spirituellen Meister entspricht, und Oberhaupt der Naqshbandi-Rashidiya Sufi-Tradition. Was hat dich auf den spirituellen Weg gebracht?
ITR: Mein Vater war Iraki und Sheikh der Naqshbandi-Rashidiya Sufi-Tradition, genauso wie mein Großvater und dessen Vorfahren, meine Mutter war Deutsch-Polin. Ich bin in München geboren, verlebte aber die ersten Lebensjahre überwiegend im Irak. Es hat sich gezeigt, dass ich eine Affinität zu spirituellen Themen habe, und meine Familie hat mich darin sehr gefördert. Formell hat es mit einem sogenannten Feuerlauf begonnen, zu dem mein Großvater mich mitgenommen hat, als ich sechs Jahre alt war. Als junger Mensch, mit 18 oder 19 Jahren, habe ich überlegt, aus der Tradition auszusteigen. Ich wollte an die Filmhochschule, wollte ein künstlerisches Leben, ohne die Tradition erben zu müssen. Ich wollte die Tradition hinschmeißen, quälte mich mit Fragen: Warum soll ich diesen Jahrtausende alte Kram in der heutigen Zeit vertreten? Welchen Sinn sollte es haben, Menschen dazu zu bringen, diesen Weg zu gehen?
Du bist auf dem Weg geblieben…
ITR: Ich wurde sehr krank, behielt über Monate weder Essen noch Trinken in mir und magerte stark ab. Die Ärzte dachten in die onkologische Richtung. Wenige Tage vor der ersten invasiven medizinischen Untersuchung wurde mir schlagartig klar, welchen Weg ich gehen werde – intuitiv entschied ich mich, mein Erbe anzunehmen. Innerhalb einer Woche waren die Symptome verschwunden. Ich habe dann parallel zwei Wege beschritten: Ich bin Tänzer und Choreograph für Tanztheater geworden, gleichzeitig habe ich mich vorbereitet, die Tradition meines Vaters zu übernehmen. Und ich habe Politik- und Kommunikationswissenschaften sowie Theaterwissenschaften und Semitistik studiert.
Was sind die Kern-Elemente der Naqshbandi-Rashidiya Sufi-Tradition?
ITR: Die Sufi-Tradition, in die ich hineingeboren wurde, ist ein Haus innerhalb der bekannten Naqshbandi Tariqa, sie wird im Westen die „Tradition des Schweigens“ genannt. Sufi-Traditionen sind nicht zentral organisiert, wie zum Beispiel die katholische Kirche, es gibt kein geistliches Oberhaupt. Stattdessen gibt sehr viele unterschiedliche, voneinander unabhängige Linien. Eine der Naqshbandi-Linien wurde von einem meiner Vorfahren gegründet. Neben der stillen Meditation gibt es die Meditation mit Bewegung, Rhythmus und Stimme. Eine Spezialität der Naqshbandi-Rashidiya-Tradition ist das harte körperliche Training. Dabei macht man heilige Bewegungen und Schritte – und dies sehr oft und in hohen Wiederholungszahlen. In meiner Kindheit hieß es, ein Naqshbandi muss stark sein wie ein Löwe und ausdauernd wie ein Wolf. Das dient keinem Selbstzweck, sondern dazu, dem Geist eine stabile Wohnstätte zu geben, die die spirituelle Versenkung erlaubt.
Du bist seit Jahrzehnten weltweit tätig für die Sufi-Community. Und gibst seit vielen Jahren auch Kurse am Benediktushof…
ITR: Mein Vater war ein weitsichtiger Mann: Seiner Meinung nach war es wichtig, erst andere Häuser kennenzulernen, um mein eigenes Haus zu verstehen. Er hat recht gehabt. Ich habe im Nahen Osten gelebt, unter anderem drei Jahre in Israel, ebenso in Brasilien, in Japan, wo ich die Zen-Tradition näher kennengelernt habe. Mir war es immer ein Anliegen, die sufische Praxis für alle Menschen, die das wollen, zugänglich zu machen, egal ob und welcher Konfession die Menschen angehören. Das hat mich sehr stark mit Willigis verbunden. Willigis bin ich erstmals bei einem Retreat auf der Fraueninsel begegnet. Das war genau zu der Zeit, als er das Haus Benedikt verlassen hat, also um das Jahr 2000 herum. Kurz darauf hat er mit Unterstützung von Gertraud Gruber den Benediktushof gegründet. Ich war von Anfang an dabei und habe noch vor der offiziellen Eröffnung zwei Kurse gegeben, im großen Zendo. Mit Willigis bin ich damals oft auf einen Kaffee zusammengekommen.
Wie du erzählt hast, legt die Naqshbandi-Rashidiya Sufi-Tradition großen Wert auf das körperliche Training: Der Körper ist ein Tempel. Wie hat dir die spirituelle Verbindung mit dem Körper nach der Gehirnblutung geholfen?
ITR: In meiner Tradition sprechen wir von einem „Immovable Spirit“. Das ist ins Deutsche übersetzt nicht gleich zu setzen mit „unbeweglicher Geist“, sondern meint den in sich ruhenden Geist. Durch die spirituelle Praxis lernt man, diesen Geist zu kultivieren. Man lernt, einen inneren Fokus zu haben. Natürlich verliert man diesen Fokus immer wieder. Das gilt es zu akzeptieren und den Fokus wieder zu finden.
Wie hast du die Gehirnblutung, die Zeit danach erlebt?
ITR: Als es passierte, hielt ich gerade eine Zoom-Klasse mit 40 Leuten. Meine rechte Körperseite hat angefangen zu zittern und ich habe instinktiv gespürt, dass da etwas gewaltig nicht stimmt. Als es immer unkontrollierbarer wurde, habe ich meinen Assistenten gebeten, die Ambulanz zu rufen. Danach wird meine Erinnerung undeutlich. Nach etwa zehn Tagen bin ich meiner wieder besser gewahr geworden und hatte das Gefühl: „Ich bin in 1000 Stücke zerschlagen“. Diese 1000 Stücke liegen unzusammenhängend, irgendwie verteilt herum. Ich musste nach und nach anfangen, diese Fragmente wieder zusammenzuziehen.
Meine rechte Körperhälfte war anfangs wie tot, ich konnte nichts bewegen und habe nichts gespürt. Es hat Monate gedauert, bis es gelang, diese Körperteile ganz langsam wieder zurück zu integrieren. Und es ist längst nicht beendet. Die Ärzte, die mich in den ersten Wochen behandelt haben, waren sehr erstaunt und berührt, wie es mir heute geht, entgegen aller medizinischen Prognosen. Der andere Teil der Geschichte: Ich brauche noch immer den Rollstuhl, habe starke körperliche Einschränkungen und sehr starke Schmerzen.
Für einen agilen und körperlich bewussten Menschen ist es umso schwerer, plötzlich vom eigenen Körper derart ausgebremst zu werden, über Monate mit Schmerz und starken körperlichen Einschränkungen zu leben …
ITR: Zum Genesungsprozess gehören starke Nervenschmerzen in der rechten Körperhälfte. Auf einer Skala von 1 bis 10 würde ich sie tagsüber bei einem Richtwert von 9 einordnen. Das wäre ohne die meditative Praxis, den ruhenden Geist sehr, sehr schwer auszuhalten. Einerseits geht es um Akzeptanz und das Annehmen, gleichzeitig aber auch darum, gegen die Erstarrung anzukämpfen, also sich zu behaupten. Beides sind Aspekte der Wahrheit. Wichtig ist, für sich herauszufinden, ob im Ringen mit den Schwierigkeiten ein wahrhaftiger, innerer Impuls steht oder einfach Sturheit, Unbelehrbarkeit. Das muss immer wieder neu austariert, erspürt, erfahren werden, ein Leben lang. Den Status quo eines „Jetzt weiß ich es“ gibt es nicht.
Wenn die Zweifel kommen, die sehr menschlich sind – gibt es etwas, was dir hilft?
ITR: In den ersten Monaten in der Reha habe ich abends aus dem Koran immer gesungen, besser gesagt daraus rezitiert, das hat mich beruhigt. Es gibt einen grundlegenden Satz im Koran, der heißt übersetzt: „Das Göttliche ist großzügig“. Ja – das war ein wichtiger innerer Anker für mich. Und ist es immer noch.