„Das Dunkel annehmen“
von Maria Kolek Braun, Kontemplations-Lehrerin der Linie „Wolke des Nichtwissens“ (Willigis Jäger), Mitglied der spirituellen Leitung am Benediktushof
Viele Menschen leiden unter der Dunkelheit der Wintermonate, ihnen macht die neblige, düstere Stimmung dieser Monate zu schaffen. Die Natur kommt in dieser Zeit zur Ruhe. Wer im Nebel geht, ist fokussierter auf das Unmittelbare, auf das, was vor einem liegt. Irgendwie ist man mehr bei sich selbst. Bei dem einzelnen Schritt, den man geht, bei dem, was man sieht oder nicht sieht: die Dinge, die man anders sieht – wie in Watte gehüllt, schemenhaft oder gar nicht mehr erkennbar. Es ist eine veränderte Wahrnehmung, man ist wacher und unmittelbarer bei dem, was jetzt ist. Diese Einschränkung des Fokus‘, die Reduzierung des Sicht- und Hörbaren tut uns gut. Sie lässt uns auch deutlicher uns selbst spüren, weil wir auf uns selbst zurückgeworfen sind.
Die Perspektive wechseln und Leben entdecken
Nebel engt den Kreis des Wahrnehmbaren enorm ein: eine Chance, wacher da zu sein. Sich selbst deutlicher zu spüren, genauso wie die Umwelt.
Es kommt auf die Sichtweise an: wenn wir das Wort „Nebel“ rückwärts lesen, heißt es „Leben“. Manchmal hilft der Perspektivenwechsel, das Ausbrechen aus den gewohnten Wahrnehmungsmustern, um Leben zu entdecken.
Gerade auch in der jetzigen Weltlage: Viele Menschen haben Angst vor der Zukunft, fühlen sich schutzlos und ohnmächtig angesichts von Kriegen, die sich auszuweiten drohen, von wirtschaftlichen Krisen und Existenzängsten, von Klimakatastrophen, von denen immer mehr Regionen der Welt, auch in unserer Nähe, betroffen sind. Die Zukunft erscheint dunkel, erschütternd und voller Krisen.
Auch die Nachricht vom Wahlsieg Donald Trumps in den USA hat in vielen von uns Verunsicherung, Fassungslosigkeit, nicht geahnte Angst und wohl auch großes Unverständnis ausgelöst. Wir spüren: wenn man Trump ernst nimmt und er seine Wahlversprechen einlöst, hat das Folgen, auch für uns in Europa. Wir spüren: die vermeintlichen Sicherheiten, auf die wir uns verlassen, werden infrage gestellt, zerbröckeln, verändern sich. Das Gewohnte, in dem wir uns beheimatet und eingerichtet haben, ist doch nicht so sicher. Ein Gefühl von Ausgeliefert-Sein, von Ohnmacht macht sich breit.
„Gib deiner Welt die Dunkelheit zurück, so wie es immer neu der Winter tut “
(Giannina Wedde)
Im Grunde sind wir dem Unberechenbaren und nicht Händelbaren des Lebens immer ausgeliefert, wir schaffen es nur in der Regel ganz gut, diese Tatsache nicht ständig an uns herankommen zu lassen.
Radikale Akzeptanz unserer Verletzlichkeit, Vergänglichkeit
Ein vermeintlicher Ausweg ist Weglaufen, Verdrängen, Negieren. Nicht nur Drogen und Alkohol machen selbstbezogen statt liebesfähig, machen „dicht“ statt offen für die Wirklichkeit, sondern jegliche Sucht, alles, womit wir unser Dunkel, unsere Ängste und Einsamkeit betäuben, statt sie anzusehen; alles, womit wir leugnen, dass wir uns oft gemessen an den Erwartungen unseres Egos eben nicht mächtig, sondern ohnmächtig, nicht „glücklich“, sondern schwach und unglücklich fühlen.
Genauso gilt umgekehrt: Wer sich von seinen Ängsten und Sorgen beherrschen lässt, sieht nur noch „Negatives“ bei sich und anderen, ist hoffnungslos und handlungsunfähig.
Kontemplation ist das offene Annehmen des Lebens, so wie es ist: das Ego mit seinen Gefühlen, das die Ganzheit des Lebens in „Licht“ und „Dunkel“ unterscheidet.
Wie können wir ihnen begegnen? Indem wir
… die Realität zulassen: mit offenen Augen sehen, was ist.
… mit klarem Verstand analysieren.
… die Angst, Zukunftsangst, Verunsicherung zulassen und hinein gehen ins Dunkel.
… die Ohnmacht zulassen, so wenig Einfluss zu haben, ausgeliefert zu sein.
Für mich heißt dies: radikale Akzeptanz von Verletzlichkeit, Vergänglichkeit, von Abschied und Ohnmacht. In der eigenen Fassungslosigkeit, im eigenen Unverständnis möchte ich mir selbst abverlangen, das andere, mir Fremde, das Verstörende als das anzuerkennen, was es ist: mir fremd und doch auch mit mir verbunden.
Das Dunkel zu akzeptieren, heißt für mich allerdings nicht, nichts zu tun, handlungsunfähig zu sein, nur ein Opfer der Geschehnisse.
Es braucht genauso die klare Positionierung, das entschiedene Einstehen für die Würde aller Menschen und der ganzen Schöpfung, für Gerechtigkeit, für Frieden und die Verbundenheit allen Seins.
„Du bleibst dir fremd, wenn du die Tiefe nicht wagst,
du bleibst blind wie ein Stein am ausgewaschenen Ufer,
den die flüchtigen Wasser zerrieben haben,
hinein geworfen in eine Welt, die du nicht begreifst,
weil du nicht wagst, in ihre Dunkelheit hinab zu steigen.
Gib deiner Welt die Dunkelheit zurück, so wie es immer neu der Winter tut. Und dann warte.“
(Giannina Wedde)