„Zeit, danke zu sagen“
von Fernand Braun
Kontemplationslehrer und Mitglied der spirituellen Leitung
Im Oktober feiern die christlichen Kirchen das Erntedankfest. Die Gläubigen sollen an die Vielzahl von Nahrungsmitteln erinnert werden, und dass nicht nur der Hände Fleiß genügt, sondern die Natur – ja, Gott selbst – es den Menschen bereitstellt.
In diesem Sommer haben wir in besonderer Weise erfahren, was es bedeutet, wenn der Regen ausbleibt, der Ernteertrag um einiges geringer ausfällt, sogar Blumen und Gras im heimischen Garten verkümmern oder gar verdorren.
Nicht nur die Früchte der Erde sondern selbst elementare Dinge wie Regen, fruchtbare Erde und das Licht der Sonne, die uns in selbstverständlicher Weise und in rechtem Maße zur Verfügung stehen, werden mit diesem Hintergrund als „kostbare Geschenke“ wahrgenommen, die wir mit Dankbarkeit entgegennehmen dürfen.
Die Dankbarkeit zeigt uns, wie wertvoll und reich unser Leben ist. Sie macht uns glücklich und verwandelt das, was wir haben, in ein Genug, sofern unsere Aufmerksamkeit nicht ständig darauf gelenkt wird, was uns fehlt.
„Sei dankbar für das, was du hast, und am Ende hast du mehr. Wenn du dich auf das konzentrierst, was du nicht hast, wirst du nie genug haben!“ – so sagte eine weise Frau. Damit meint sie: „Dein Leben ist ein Geschenk. Betrachte es mit großer Wertschätzung!“
Dem kann ich ohne Zögern zustimmen, wenn es mir gut geht und mir alles zur Verfügung steht, was ich für ein gelingendes Leben brauche.
Aber es will mir nicht recht gelingen, wenn ich auf die leidvollen Erfahrungen meines Lebens blicke, die mich auch nach langer Zeit noch quälen. Oder wenn mein Blick auf das Leid in der Welt fällt, wie zum Beispiel die Pandemie, Kriege, Klima- und Energiekrise. Wir können uns diesen Gegebenheiten nicht entziehen. Sie sind uns buchstäblich „gegeben“! Sind auch sie „Geschenke“ oder nicht vielmehr Zumutungen, denen wir uns nur ergeben können?
„Wenn das einzige Gebet,
das Du in Deinem Leben sprichst,
ein „Danke“ wäre, würde das ausreichen.“
(Meister Eckhart)
In der spirituellen Praxis heißt es oft: „Lass los!“ „Kämpfe nicht dagegen!“ usw. Aber zuweilen scheint mir die Ergebenheit als lähmende Resignation, wo das Leben langsam „einzufrieren“ beginnt und Angst den weiteren Weg bestimmt.
Aber es gibt auch Menschen, die aufgrund von Leid und Schmerz geradezu über sich hinauszuwachsen scheinen. Schwierige Situationen und Herausforderungen wecken ungeheure, kreative Kräfte in ihnen. Viele Beispiele zeigen uns, wie Menschen trotz Gefahren und Einschüchterung auf die Straßen gehen, sich gegen Ungerechtigkeit und Bedrohung auflehnen, oder gegen Tatenlosigkeit und Bequemlichkeit protestieren. Zurecht! Doch droht nicht auch hier der Weg in eine Sackgasse zu führen, wenn Irrtümer, Missverständnisse und Illusionen zu Krieg, Gewalt und Hass ausarten?
Angst und Resignation, Ablehnung und Hass engen unsere Wahrnehmung ein. Wir kleben an dem, was uns leiden lässt und erzeugen damit neues Leid. Sowohl in der lähmenden Angst als auch im gewalttätigen Protest sind wir mehr mit bestimmten schmerzverursachenden Vorstellungen identifiziert und weniger mit den Gegebenheiten des gegenwärtigen Augenblicks verbunden, die durchaus leidvoll sein können.
Andere Möglichkeiten werden nicht in Betracht gezogen. Ein möglicher Ausweg aus diesem Dilemma ist eine mutige Haltung von Offenheit und Hingabe. Es ist eine Haltung, die uns durch Schmerz und Leid hindurchführen und einen Zugang zu einem weiten Raum schenken kann, ein Raum unendlicher Möglichkeiten, die wir jetzt noch nicht denken können. Eine Haltung tiefer Dankbarkeit und Freude – auch mitten im Schmerz – kann entstehen, weil wir erkennen:
Jeder Augenblick, die schönen wie die schmerzvollen Momente, tragen in der Tiefe eine Verheißung, einen Segen, den Geschmack des Göttlichen!
In seinem Text „Zeit, danke zu sagen“, schreibt Paulo Coelho:
„Ich danke allen, die nicht an mich geglaubt haben.
Sie haben meinen Mut geweckt.
Ich danke allen, die mich verletzt haben.
Sie haben mich gelehrt, im Schmerz zu wachsen.
Ich danke allen, die meinen Frieden gestört haben.
Sie haben mich stark gemacht, dafür einzutreten.
Vor allem danke ich jene, die mich lieben, wie ich bin,
sie geben mir Raum zu leben!“