„Unsere Ahnen – und die Ahnung von der unfassbaren Dimension des Lebens“
von Alexander Poraj, Zenmeister der Linie „Leere Wolke“ (Willigis Jäger), Mitglied der spirituellen Leitung am Benediktushof
Traditionell gilt der November dem Gedenken unserer Verstorbener. Interessant ist dabei bereits die Wahl des Monats: November. Vermutlich fiel die Wahl auf diesen Monat, weil er die Zeitspanne gewisser Trostlosigkeit benennt. Alle Blätter sind „gefallen“. An den Frühling ist noch nicht zu denken, daher umso mehr an den vergangenen Sommer und Herbst, denn diese liegen noch wach in unseren Erinnerungen. Wir trösten uns jetzt dadurch, indem wir der vergangenen Tage gedenken. So ähnlich kann es mit dem Gedenken an unsere Verstorbenen geschehen. Wir erinnern uns an bestimmte Personen, mit denen uns vieles verband. Ihre leer gebliebenen Plätze wurden oder werden nicht neu besetzt oder gar ersetzt. Die „Leere“ lädt dazu ein, sich zu erinnern.
Wir haben uns bei weitem nicht uns selbst zu verdanken
Ich möchte Sie dazu einladen, das Erinnern etwas zu erweitern. Gehen Sie bitte in diesen Tagen über die Ihnen bekannte Personen hinaus. Sie können es tun, indem Sie zu Hause oder am Grab ihrer direkten Vorfahren stehend eine Kerze anzünden und die Ahnen andenken. Das Wort die „Ahnen“ kann die Wirkung erzeugen, dass Sie sich präsenter und zugleich offener ereignen können. Entgegen unseren heutzutage vorherrschenden Meinungen können Sie „er-ahnen“, dass Sie sich bei weitem nicht sich selbst zu verdanken haben. Mehr noch: Sie können er-ahnen, dass Sie viel weniger ein klar abgegrenztes Wesen sind, das selbständig und aus sich heraus lebt und waltet.
Sie können eine Ahnung davon bekommen oder gar von einer Ahnung heimgesucht werden, dass auch Ihre am weitesten zurückliegenden Ahnen allein durch ihr Sosein entschieden dazu beigetragen haben und immer noch beitragen, dass Sie genauso sind, wie Sie sind und genau das tun oder lassen, was Sie Ihr Leben nennen. Hätte es vor vier- oder achthundert Jahren genau diesen bestimmten Mann nicht gegeben, der genau dieser und nicht einer anderen Frau begegnete, so wären Sie ganz sicher heute nicht da.
Keine Frau und kein Mann; kein Ereignis, keine Begegnung, Leben, Tod, Krieg, Flucht, Sieg; Neuanfang, Freude, Scheitern, Fehlgeburt, Tod, Mord oder Qual; kein Zufall oder Absicht, keine andere Eizelle oder Spermium dürfen fehlen oder gar ein wenig anders sein, als sie es in der Tat waren und sind, damit wir genauso da sind, wie wir sind.
„Enkel bist Du! Siegen und Sorgen gestern Gewesener dankst Du Dein Dasein. Hältst als Ahnherr Segen und Fluch fernster Geschlechter hütend in Händen“
(aus der Edda)
Ihre und meine „Einmaligkeit“ verdanken wir nicht uns selbst, sondern der Einmaligkeit einer jeden Situation vor und neben uns, die genauso sein musste und sein muss, wie sie war und eben jetzt ist, damit meine Augen beim Schreiben dieser Zeilen auf die ihnen eignen Art blinzeln.
Das unergründliche Geheimnis genannt Leben
Aus dieser Haltung heraus sind das Sosein und der zuvor erwähne Augenblick, nur weitere unbeholfene Namen für das unergründliche Geheimnis genannt Leben.
Aus dieser „Er-Ahnten“ Perspektive heraus und weniger aus der Anstrengung der Selbst-Behauptung, ertönt das, was wir mit dem Namen „Dankbarkeit“ bezeichnen. Dankbarkeit scheint die Melodie des Lebens zu sein, des gelebten Lebens, das zu sich selber keine Alternative kennt. Sie erklingt immer, damit auch dann, wenn wir nicht oder noch nicht in der Lage sind, sie vernehmen zu können. Auch unsere Weigerung, unsere Angst, Unbeholfenheit und all das, was wir als unsere Fehler bezeichnen, scheinen Musik in den Ohren des Lebens zu sein.
In diesen Tagen und an den Gräbern unserer Ahnen stehend, lasst uns leben. Genau das sind wir ihnen schuldig. Und genau damit danken wir ihnen.
Mit Grüßen
Euer Alexander