Verneigen – Vergegenwärtigung und Feier des Lebens
von Sven-Joachim Haack, Kontemplationslehrer „Wolke des Nichtwissens“ (Willigis Jäger), Ev. Pfarrer i. R. und Klinikseelsorger
Zu den grundlegenden spirituellen Praktiken am Benediktushof gehört das Verneigen. Viele Dutzend Male täglich: beim Betreten und Verlassen der Übungsräume, zu Beginn und am Ende des Sitzens in Stille und des achtsamen Gehens, vor und nach dem Essen, etc. Für Menschen, die in keiner formalen spirituellen Praxis beheimatet sind und an den Hof kommen, ist das oft zunächst befremdlich. Was soll das Verneigen? Wozu verneigen? Vor wem oder was verneige ich mich? Was also hat es auf sich mit dieser Praxis? Es geht nicht darum, sich klein zu machen oder zu unterwerfen. Im Gegenteil: Es geht um das Einüben der eigenen Größe und Würde sowie eine grundsätzliche Lebenshaltung. So möchte ich ein Loblied auf das Verneigen in sieben Strophen singen, indem ich seine förderliche Wirkung zu beschreiben versuche:
1. Verneigen als Unterbrechung und Innehalten:
Das Verneigen ist jeweils an Übergängen platziert: vom Stehen ins Sitzen, vom Sitzen ins Stehen, vom Stehen ins Gehen, beim Betreten oder beim Verlassen eines Raumes. Es unterbricht einen absehbaren Verlauf, verschafft mir einen Moment des Innehaltens. Es lädt mich damit zur bewussten und vergegenwärtigten Anwesenheit ein.
2. Verneigen als Fühlungnahme:
Es gewährt mir einen Moment der Fühlungnahme, des Spürens meiner selbst, der inneren Kontaktaufnahme mit mir und lässt mich verbunden, gegenwärtig, anwesend fühlen.
3. Verneigen als Sammlung:
Es lädt mich ein, mich in den Übergängen nicht zu verlieren, kein Schnell-Schnell im Modus des Autopiloten. Nein, es ist eine Gelegenheit, mich im Gewahrsein einzusammeln. Es bedeutet Fühlungnahme gegen Veräußerlichung und stellt einen Widerstandsakt gegen das Funktionieren dar, lädt den Übergang mit Bewusstheit auf.
4. Verneigen als Achtsamkeit und Bewusstheit:
Ich lade im Verneigen diesen Augenblick, diesen Übergang mit Achtsamkeit auf, bleibe anwesend, übe Präsenz ein und vergegenwärtige damit meine Anwesenheit. Besonders in den Übergängen kommen wir uns im Alltag oft abhanden: Das momentan Anstehende ist noch nicht abgeschlossen, wir sind jedoch innerlich schon beim nächsten Termin, dem nächsten Thema oder einer geplanten Begegnung und schon reißt der Faden der inneren Verbundenheit mit uns selbst und den anderen.
Die Essenz der Kontemplation ist aus meiner Sicht: „Nimm Platz, lass Dich nieder, richte Dich auf, sei und bleibe da, feiere das Leben!“. Das gilt nicht nur für die formale Praxis des Sitzens in Stille, sondern ebenso für alltägliche Abläufe. Wie also kann ich anwesend bleiben in dem, was ist? Unterbrechen, Innehalten, Sammeln, das Kultivieren von Achtsamkeit und Bewusstheit sind Antworten darauf.
So lädt uns das Verneigen in der formalen Praxis immer wieder zum Aufwachen, zur Anwesenheit, zur Vergegenwärtigung im Ablauf eines Kurstages ein. Es stellt also eine Art Prototyp für die alltägliche Gestaltung der Übergänge dar: Lebenskultur aus der Stille.
„Ich ehre den Platz in dir, in dem das gesamte Universum wohnt… Ich ehre den Platz in dir, wo, wenn du dort bist und auch ich dort bin, wir
beide eins sind“
(Mahatma Gandhi antwortet Albert Einstein auf dessen Frage, was er mit dem Gruß „Namaste“ ausdrücken wolle)
5. Verneigen als Hingabe und Einordung:
Zum Verneigen gehört eine Dimension, die weit darüber hinaus geht: Ich stelle mich in einen größeren Zusammenhang und gewahre die Wirklichkeit, die weit über mich hinausreicht. Dies mag sich beim Betreten des Raumes in der Hinwendung zum Altar und seinen Symbolen oder in der ungerichteten Verneigung in den Raum hinein ausdrücken. Damit ordne ich mich in einen umfassenderen Zusammenhang ein, übe Hingabe an diesen Moment ein und betrete einen Raum, jenseits der Ansprüche an mich, eigene oder fremde, um das Wunder zu gewahren, welches dieser Augenblick darstellt und das ich selbst bin.
6. Verneigen als Erinnerung und Gebet:
Im Verneigen erinnere ich mich dessen, was ich zutiefst bin und was nicht definiert ist durch mein Gelingen oder Scheitern. Ich erinnere mich meiner – unserer gemeinsamen – wahren Natur, als einmaliger und unverwechselbarer Ausdruck des Einen. Damit wird das Verneigen zum Gebet, zur Kommunion und Kommunikation mit der hintergründigen Wirklichkeit, aus der alles hervorgeht und in die alles zurückkehrt.
7. Verneigen als Feier des Lebens:
Verneigen ist somit Ausdruck der Kostbarkeit und Einmaligkeit dieses Augenblicks, des Wunders des Lebendig-Seins, des Geheimnisses meines Lebens und alles Lebendigen sowie des Mysteriums der göttlichen Gegenwart in allen und allem. Womit ich auch das Heilige für mich benamt habe, vor dem ich mich verneige, ohne dass es diese Benamung oder Ausrichtung benötigt. Verneigen: Ich stelle mich in die Mitte meines Lebens und vergegenwärtige es in seiner So-Heit. Verneigen gegen das Vergessen der tiefsten Wirklichkeit, Erinnerung und Vergegenwärtigung. Zelebration – Feier des Lebens.
Schließen möchte ich mit einem Text der Zen-Tradition, der dies für mich ausdrückt:
EINE TIEFE VERBEUGUNG
Ich werde oft gefragt, wie ein
Buddhist die Frage
„Existiert Gott?“ beantwortet.
Vor ein paar Tagen ging ich am Fluss entlang. Der Wind wehte.
Plötzlich dachte ich: „O, die Luft existiert wirklich!“
Wir wissen, dass die Luft da ist,
aber solange uns nicht der Wind ins Gesicht weht,
sind wir uns ihrer nicht bewusst.
Vom Winde umweht, wurde mir plötzlich klar, dass sie wirklich da ist.
Genauso ist es mit der Sonne.
Plötzlich nahm ich die Sonne wahr,
die durch die kahlen Bäume schien.
Ihre Wärme, ihre Helligkeit – alles vollkommen frei,
vollkommen gratis.
Wir können sie einfach genießen.
Und ohne es bewusst zu wollen, völlig spontan, legte ich die Hände
gegeneinander und machte „gassho“.
Da wurde mir klar, dass es nur darauf ankommt:
dass wir uns verbeugen, tief verbeugen können.
Nur das, einfach nur das.
Rev. Ido Tai Shimano Roshi
In diesem Sinne, Euer Sven